Digitale Teilhabe 65 plus

Beobachtungen, Gedanken, Fragen und Tipps
zur Überwindung der Alterslücke bei der Nutzung von digitalen Medien

Portrait: Herbert Kubicek
Prof. Dr. Herbert Kubicek
Jahrgang 1946
Über mich

30 Jahre Alterslücke – und kein Ende in Sicht

Ein Blick in den Rückspiegel

Seit mit dem World Wide Web Anwendungen des Internet für den privaten Alltag angeboten werden, zeigen sich bei den Nutzerinnen und Nutzern deutliche soziale Unterschiede: Frauen, ältere Menschen, Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen, Menschen mit Behinderungen oder mit Migrationshintergrund waren und sind im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung unterrepräsentiert. In politischen Programmen wird seitdem beteuert, dass bei der staatlich geförderten Digitalisierung niemand abgehängt oder ausgeschlossen werden soll und dass alle teilhaben und die Chancen nutzen können sollen. Die vorangegangene Bundesregierung hat die Kommission, die sie in jeder Legislaturperiode zur Lage der älteren Menschen beraten soll, für den Achten Altersbericht um ein Lagebild und Empfehlungen zum Thema "Ältere Menschen und Digitalisierung" gebeten Der Bericht wurde 2021 vorgelegt [1]. Er bestätigt, was seit 25 Jahren bekannt ist und geht in seinen Empfehlungen kaum über das hinaus, was bereits 1998 im Forum Informationsgesellschaft von rund 100 Expert:innen empfohlen wurde.

Die Clinton-Gore Administration und der Digital Divide

In den USA hatten Bill Clinton und Al Gore in ihrer Wahlkampagne 1992 mit dem Bild des Information Superhighway deutlich gemacht, für wie wichtig sie das Internet für Wirtschaft und Gesellschaft halten und dass alle es gleichermaßen nutzen können sollen. Weil sie wussten, dass der Markt das nicht alleine schaffen kann, haben sie gleich nach ihrem Amtsantritt die Verbreitung und Barrieren der Internetnutzung regelmäßig untersuchen lassen und mehrere Förderprogramme für einen breiten Zugang unterrepräsentierter Bevölkerungsschichten initiiert [2]. Das Weiße Haus hat die National Telecommunications and Information Administration (NTIA) beauftragt, repräsentativ festzustellen, wer das Internet nutzt und wer nicht. Unter dem Titel "Falling Through The Net" wurde 1995 die erste repräsentative Erhebung für die USA durchgeführt und es wurde eine Unterrepräsentation von Frauen, Älteren, weniger Gebildeten und nicht weißen ethnischen Bevölkerungsgruppen festgestellt [3].

Das Thema hat es damals schon in die Tagespresse geschafft:

Cartoon: Two people are talking like homeless people under a bridge of Information Superhighway going to Global Village. I didn't have the training an I couldn't afford computer, software and modem.
Los Angeles Time 1993

Der Begriff Digital Divide wurde 1998 in der Nachfolgestudie eingeführt und bezeichnet eine methodische Innovation in der Statistik zur Internetnutzung [4]. Statt für eine Bevölkerungsgruppe die Entwicklung im Zeitablauf darzustellen, wird die Entwicklung von zwei unterschiedlichen Teilgruppen in einer Grafik gegenübergestellt, um Unterschiede in der Dynamik zu erkennen So wurde ein Gender-Divide sichtbar, weil die Wachstumskurve der Männer stärker steigt als die der Frauen und ein Age-Divide, weil der Anteil der Jüngeren stärker steigt als der der Älteren.

Die Alterslücke in Deutschland

Anhand der jährlichen Daten des früheren (N)Onliner-Atlas, heute Digitalindex lässt sich dieser Sachverhalt auch für Deutschland nachweisen:

Alterslücke bei der Internetnutzung (eigene Darstellung der Daten aus dem (N)Onliner-Atlas und Digital-Index der Initiative D21).

Der Divide kann in Prozentpunkten gemessen werden als der Abstand zwischen der Entwicklung des Anteils der Internetnutzerinnen und Nutzer im Alter von 14 – 19 Jahren und im Alter 70+. Er betrug 2001 rund 60 Prozentpunkte und 2020 noch 46 Prozentpunkte. Die deutsche Übersetzung "Digitale Spaltung" suggeriert eine Spaltung der Gesellschaft, einen sozialen Konflikt, bei dem ein Teil dafür und ein anderer dagegen ist. Gesellschaftlich handelt es sich um ein einen weiteren Aspekt der Ungleichheit, wie wir ihn in Bezug auf Bildung und Einkommen schon lange kennen und der sich nun auch auf die Internetnutzung auswirkt. Von einer Spaltung kann man in Bezug auf die Entwicklung der beiden Kurven sprechen, deren Verlauf auseinandergegangen ist und die sich in den letzten Jahren etwas angenähert haben. Passender erscheint mir die Bezeichnung "Alterslücke" bei der digitalen Teilhabe.

PIABs als sozialer Ausgleich und wirtschaftspolitische Innovationsförderung

Ein wesentliches Element der US-Programme war die Förderung von Public Internet Access Points (PIAP), von öffentlichen Internetzugangsorten in Bibliotheken, Community Centers und anderen quartiersnahen Einrichtungen auf kommunaler Ebene. So sollten auch Menschen, die sich keinen Computer und keinen Internetanschluss leisten können, die neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten nutzen können. So sollte aber ein Investitionsdilemma umgangen werden, das die Digitalisierung der Verwaltung und den Onlinehandels bremst. Denn digitale Medien sind Erfahrungsgüter, deren Nutzen man erst beurteilen kann, wenn man sie nutzt. Aber um eine positive Erfahrung machen zu können, braucht man einen Computer und einen Vertrag, man muss also für etwas investieren, dessen Nutzen man noch nicht kennt. Ein unentgeltlicher Zugang in einem PIAB in der Nähe ist da eine gute Gelegenheit, Erfahrung, Motivation und Nachfrage ohne eine solche Investition zu ermöglichen. Es waren also nicht nur sozialpolitische, sondern auch wirtschaftspolitische Gründe der US-Regierung, PIABS zu fördern. Und es war kein Zufall, dass AOL in Washington die Benton Foundation dabei unterstützt hat, ein Digital Divide Network aufzubauen, das eine bundesweite Datenbank aller PIABs betrieben und die dort tätigen Ehrenamtlichen mit einem Newsletter bei ihren neuen Aufgaben unterstützt hat. Um einen PIAB in der Nähe zu finden, konnte man nicht nur auf einer Internetseite suchen, sondern auch über eine bundesweite Telefonnummer unentgeltlich eine von AOL betriebene Hotline anrufen, die Postleizahl angeben und bekam die Informationen zu den nächstgelegenen Orten.

Die Enquete Kommission "Die Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" (1996 - 98)

Ich habe mich in mehreren USA-Besuchen vor Ort informiert und in Publikationen und Vorträgen für ähnliche Zugangshilfen argumentiert. 1996 bin ich deswegen. als Sachverständiger in die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags "Die Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" berufen worden. Als es um den Abschlussbericht und Empfehlungen ging, gab es keine Mehrheit für entsprechende Vorschläge. Die Mehrheit von CDU/CSU und FDP betrachtete es also normal für die frühe Phase einer Innovation, dass gut gebildete und ökonomisch besser gestellte Männer die Vorhut bilden und war überzeugt, dass die anderen Schichten schrittweise nachziehen würden. Auch wurde argumentiert, dass sich Investitionen in eine Unterstützungsinfrastruktur nicht lohnen würden, weil sich das Problem im Zeitablauf von alleine löse, wenn jüngeren, technik-affinen Genrationen älter werden. Nur in einem Minderheitsvotum von SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN wurde auf meinen Formulierungsvorschlag hin der Zugang zum Internet als staatliche Infrastrukturaufgabe qualifiziert und als ein Problem mit mehreren Ebenen und Dimensionen beschrieben, das gezielte Maßnahmen zur Überwindung technischer, ökonomischer und soziokultureller Barrieren erfordert. Empfohlen wurden Studien zu den verschiedenen Barrieren, Förderprogramme für Bibliotheken als Zugangsorte, steuerliche Erleichterungen für die Anschaffung internetfähiger PCs u.a.m. [5]

Info 2000, das Netzwerk Digitale Chancen und die Stiftung Digitale Chancen

Parallel zur Enquete-Kommission hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung das Programm Info2000 mit Arbeitsgruppen aus Verwaltung, Wirtschaft und Verbänden gestartet, darunter auch eine AG "Senioren in der Informationsgesellschaft" mit über 100 Expert:innen. In dem ebenfalls 1998 veröffentlichten Abschlussbericht wird auf die vielfältigen Möglichkeiten der Erleichterung im Alltag speziell für ältere Menschen durch das Internet verwiesen, vom Kontakt mit Angehörigen per E-Mail über die elektronische Fahrplanauskunft bis zum Home-Banking [6]. Gleichzeitig wird bedauert, dass diese "Hilfsmittel" bei Senioren bislang kaum verbreitet sind, und auf die vielfältigen Hemmschwellen und Hindernisse hingewiesen. Senioren seien weniger an der Technik als an unmittelbarem Nutzen interessiert, aber es fehle an Gelegenheiten, diesen Nutzen unmittelbar selbst zu erfahren Auch fehle es an Curricula, die an konkreten alltäglichen Situationen anknüpfen und die neuen Technologien in diesem Zusammenhang erklären.

Gefordert werden

Als nach der Bundestagswahl 1998 der Vorsitzende der genannten Enquete-Kommission, Siegmar Mosdorf, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium wurde, startete das Ministerium das Programm "Internet für alle" In diesem Rahmen wurde an der Universität Bremen das Projekt "Netzwerk Digitale Chancen" gefördert, das nach dem Vorbild des Digital Divide Network in Washington D.C. öffentliche Internetzugangs- und Lernorte (ZuLOs) in einer Datenbank erfasste und in Kooperation mit AOL Deutschland per Telefonhotline nach Postleitzahlen abfragbar machte. Über einen Newsletter wurden diese Zugangs- und Erfahrungsorte in technischen und rechtlichen Fragen unterstützt. Im Januar 2002 ist aus diesem Projekt die Stiftung Digitale Chancen hervorgegangen, welche die Datenbank bis heute fortführt [7], aber keine Mittel für eine regelmäßige und vollständige Aktualisierung hat.

Mit dem mobilen Internet und erschwinglichen Tablets und Smartphones für Senioren haben ZuLOs an praktischer Bedeutung verloren. Daher hat die Stiftung Digitale Chancen 2013 mit eplus, später Telefonica Deutschland das Projekt Digital mobil im Alter gestartet, in dem die niedrigschwelligen Erfahrungsmöglichkeiten durch die Ausleihe von Tablets mit SIM Karten in Senioreneinrichtungen wie Treffs und Begegnungsstätten, Wohn- und Pflegheimen ergänzt werden [8].

Digital Kompass und Digitalpakt Alter und der Masterplan der Stiftung digitale Chancen

Seit gut 20 Jahren wird immer wieder in politischen Programmen zur Digitalisierung das Ziel verkündet, dass alle an den Vorteilen der teilhaben sollen und niemand zurückgelassen oder abgehängt werden soll. Alle sollen Zugang haben und die notwendigen digitalen Kompetenzen erwerben. Das Bundesfamilienministerium fördert seit mehreren Jahren den Digital Kompass, der bundesweit dabei hilft, Erfahrungsorte als Standorte für die Vermittlung von digitalen Kompetenzen zu gründen und die Ehrenamtlichen und Senior:innen mit einer Fülle an Leitfäden und Anleitungen unterstützt [9]. Das Ziel ist, in jeder Kommune einen Digital Kompass Standort zu etablieren.

Der gerade gebildete Digitalpakt Alter, dem auch die Stiftung Digitale Chancen beigetreten ist, meldet als ersten Erfolg die Förderung von bundesweit 150 Erfahrungsorten, die eine einmalige Förderung von 3.000 Euro erhalten haben [10].

Das bleibt weiter hinter dem zurück, was die Stiftung Digitale Chancen 2017 mit einem Masterplan für eine responsive Digitalisierungspolitik für die ältere Generation vorgeschlagen hat [11]. Responsiv soll heißen, dass die Unterstützungsangebote sich an den unterschiedlichen körperlichen, geistigen und finanziellen Ressourcen ausrichten sollen und daher so unterschiedlich sein müssen, wie die Millionen ältere Menschen zwischen 60 und weit über 90 Jahren. Manche brauchen keine Unterstützung, sondern unterstützen andere, manche können wegen eines schlechten Gedächtnisses nicht behalten, was sie gezeigt bekommen, wieder andere könnten lernen, aber wegen geringer Mobilität einen Lernort nicht aufsuchen [12].

Aufgrund von Interviews im Projekt Digital Mobil im Alter wurden sechs verschiedene Barrieren und vier verschiede Zielorte für Unterstützungsmaßnahmen identifiziert.

Angesichts der Tatsache, dass Bund und Länder über 2 Milliarden Euro für die Förderung digitaler Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern und die Ausstattung der Schulen bereitgestellt haben, hat die Stiftung Digitale Chancen ein 20 Millionen-Programm für den deutlich größeren Bevölkerungsanteil der Seniorinnen und Senioren mit vier Komponenezten vorgeschlagen:

Textliche Bildbeschreibung
  • Ältere Menschen sehen trotz Kenntnisnahme von Nutzen bei anderen für sich keinen Bedarf und haben keine Motivation, es einmal auszuprobieren (Motivationsbarriere).
  • Ältere Menschen sehen eigenen Bedarf und wollen es probieren, können sich den Zugang aber finanziell nicht leisten (finanzielle Barriere).
  • Ältere Menschen könnten das Internet nutzen, aber aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkungen keine öffentlichen Lernorte aufsuchen (Mobilitätsbarriere).
  • Ältere Menschen können aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkungen das Internet nicht alleine nutzen (physische Barriere).
  • Ältere Menschen sehen Bedarf, würden es gerne versuchen, trauen sich das Erlernen aber nicht zu (Lern-Barriere).
  • Ältere Menschen nutzen bereits niedrigschwellige Angebote, aber trauen sich an die höherschwelligen mit dem größeren Nutzen nicht heran (Nutzungsbarriere).
  • Ältere Menschen benötigen: Technische Fähigkeiten, Inhaltliches Verständnis, Selbstwirksamkeit.
  • Dies geschieht durch Nachbarschaftshilfe, Hilfe in Pflegeheimen, Hilfe in Seniorenwohnheimen, Hilfein Seniorentreffs.
  • Benötigt werden Leihgeräte, Trainer-Leitfäden, Train-the-Trainer, Teilnehmerunterlagen.

Eine aktuelle Umfrage im Land Bremen, an der über 11.000 ältere Menschen teilgenommen haben, belegt zudem, dass der Unterstützungsbedarf quantitativ und qualitativ sehr viel größer ist, und auf der Ebene von Stadtteilen gedeckt werden sollte, so dass ein Erfahrungsort pro Kommune ein viel zu bescheidenes Ziel ist. Auf den ermittelten Bedarf wird in mehreren BLOG-Beiträgen eingegangen.

Fußnoten

  1. [1] Deutscher Bundestag 2020: Unterrichtung durch die Bundesregierung. Achter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland Ältere Menschen und Digitalisierung und Stellungnahme der Bundesregierung. Drucksache 19/21650 vom 13.08.2020
  2. [2] IITF (Information Infrastructure Task Force) (1993): The National Information Infrastructure. Agenda for Action. Washington D.C. Department of Commerce. /nii/NII-Agenda-for-Action.html [12.03.00]
  3. [3] U.S. Department of Commerce (1995): Falling Through the Net: A Survey of the Have Nots in Rural and Urban America. Washington D.C. U.S. Department of Commerce.
  4. [4] U.S. Department of Commerce (1999): Falling Through the Net: Defining the Digital Divide. A Report on the Telecommunications and Information Technology Gap in America. Washington D.C. U.S. Department of Commerce.
  5. [5] Deutscher Bundestag (1998) Schlussbericht der Enquete-Kommission. Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, Drucksache 13/11004, S. 346 - 353.
  6. [6] Info2000: Senioren in der Informationsgesellschaft , Bonn 1998 (https://www.digitale-chancen.de/transfer/downloads/md467.pdf).
  7. [7] http://www.digitale-chancen.de/einsteiger/suche.cfm.
  8. [8] https://www.digitale-chancen.de/content/sdcprojekte/index.cfm/action.show/key.62/secid.144/lang.1.
  9. [9] https://www.digital-kompass.de/.
  10. [10] https://www.digitalpakt-alter.de/digitalpakt-alter/erfahrungsorte-1/.
  11. [11] https://www.digitale-chancen.de/content/downloads/index.cfm/aus.11/key.1520/lang.1.
  12. [12] Vgl. ausführlicher Kubicek, H. und B. Lippa (2017): Nutzung und Nutzen des Internets im Alter. Empirische Befunde zur Alterslücke und Empfehlungen für eine responsive Digitalisierungspolitik. Leipzig.