Smarte Helfer bei Orientierungsproblemen und Weglauftendenzen - Eine schwierige Entscheidung
Bildquelle https://meintechnikfinder.de/ mit freundlicher Genehmigung
Empfehlungen der Deutschen Alzheimergesellschaft
In ihrer Broschüre "Tablets, Sensoren & Co. Technische und digitale Hilfen bei Demenz“ informiert die Deutsche Alzheimergesellschaft im Kapitel “Sich sicher bewegen“ über den Nutzen von Ortungssystemen
„Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Menschen mit Demenz die Wohnung, aber auch Haus oder Garten nicht allein verlassen dürfen. Sei es, weil sie die Gefahren auf der Straße nicht mehr abschätzen können oder sie sich dort nicht mehr zurechtfinden….. Das Abschließen der Tür bedeutet aber einen sehr massiven Eingriff in die Freiheitsrechte eines Menschen. Offensichtliches Einsperren wird von den Betroffenen oft als Bestrafung oder Bedrohung erlebt und kann Angst, Wut oder Panik auslösen.
In vielen Fällen gibt es aber andere Maßnahmen, die weniger einschränkend sind und trotzdem für mehr Sicherheit für die Betroffenen sorgen ….. Wenn Menschen mit Demenz alleine unterwegs sind, sich verlaufen und den Weg nach Hause nicht mehr finden, kann ein Ortungsgerät hilfreich sein. Mit einem Ortungsgerät können Angehörige oder andere Pflegepersonen den Standort der betreffenden Person ermitteln.“
Auf mehreren Seiten folgen allgemeine Erläuterungen zu den technischen Anforderungen. Es wird erklärt, dass die Ortung über GPS (= Global Positioning System) erfolgt, über Satellitensignale, die von einem Sender bei der zu ortenden Person ausgehen und von dem Ortenden über eine App auf einem Smartphone oder Tablet mit Internetzugang auf einer Karte, zum Beispiel Google-Maps, den jeweiligen Standort anzeigen. Auch wird erwähnt, dass die Ortung durch Angehörige oder durch eine Notrufzentrale erfolgen kann und dass es neben der von Navigationssystemen bekannten Ortung auch das sogenannte Geofencing gibt. Fence ist Englisch für Zaun. Dabei wird zuvor ein als unproblematisch angesehener Raum auf einer Karte mit einem virtuellem Zaun eingegrenzt und das System meldet, falls die mit einem Sender ausgestattete Person diese Grenze überschreitet.
Allgemeine Erläuterungen, eine Übersicht über verschiedene Modell-Typen, eine Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen sowie eine Checkliste findet man auf dem Portal Pflege.de
Ein Szenario als Anwendungsbeispiel für Geofencing
Das Geo-Fencing oder Geo-Zoning ist auch Gegenstand eines Szenarios in der Broschüre zu Altersgerechten Assistenzsystemen, die ich in meinem Blog vom 22.2.2023 vorgestellt habe. In diesem Fall geht es um einen Heimbewohner, der wegen seiner Orientierungsprobleme das Heim nicht verlassen soll. Mit Hilfe einer von seinem Sohn entdeckten und installierten Tracking-App kann er jedoch problemlos in dem nahegelegen Park ohne Kontrolle spazieren gehen und Vögel beobachten. Und er kann auch das 600 Meter entfernte Cafe auf einer ruhigen Straße aufsuchen. Sein Sohn hat beide Zonen in der App gewissermaßen freigeschaltet. Falls diese verlassen werden, werden der Sozialdienst des Heimes und er per SMS benachrichtigt.
Wie in der Broschüre der Alzheimergesellschaft fehlen auch hier konkrete Produktangebote oder gar Bewertungen.
GPS-Tracker für Tiere sind nur bedingt geeignet
Im März 2024 hat die Stiftung Warentest neun GPS-Tracker getestet, sechs für Tiere und drei für Gegenstände. Sie verfügen auch über eine Geofencing-Funktion. Technisch gesehen macht es keinen Unterschied , ob ein Hund oder ein Mensch den Sender trägt, um geortet zu werden. Aber die Tracker für Tiere haben aus verständlichen Gründen keine Notruffunktion, die bei einer Person mit Demenz jedoch lebenswichtig sein kann, wenn sie bemerkt, dass sie sich verlaufen hat oder gestürzt ist.
Dasselbe gilt für den Apple-AirTag, der mit 39,00 Euro der günstigste im Test ist, aber nur in dicht besiedelten Gebieten gute Ergebnisse erzielt, weil er nicht mit GPS arbeitet, sondern mit Bluetooth von iPhone zu iPhone.
Der Testsieger Prothelis wirbt für seinen GPS-Tracker area (ohne den Zusatz "pet") auf seiner Homepage mit der Ortung von Personen, speziell solchen mit Demenz. Er steht auch ganz oben auf der Trefferliste, wenn man „Ortungssysteme für Menschen mit Demenz“ googelt. Es handelt sich um einen kleinen Sender, der permanent Daten an eine Zentrale sendet und die dort mit der area App abgerufen werden können. Über einen konfigurierbaren Benachrichtigungsdienst werden Push-Nachrichten gesendet, wenn der Tracker sich eine längere Zeit nicht bewegt oder eine vorher festgelegte Zone betritt oder sie wieder verlässt. Es muss ein Service-Paket im Abo abgeschlossen werden, dessen Gesamtpreis für zwei Jahre bei 102,96 Euro liegt
Empfehlungen vom Technikfinder aus Berlin
Das Berliner Landeskompetenzzentrum Pflege 4.0 Leben - Pflege – Digital bietet mit Mein Technikfinder eine Auswahl geprüfter technischer Systeme zu verschiedenen Pflegebedarfen an, darunter auch Ortungssysteme für das Problem „Sich verlaufen“. Das pflegerische Problem wird so beschrieben: „Ein beeinträchtigter Orientierungssinn erschwert den Rückweg in die sichere Wohnumgebung. Das kann gefährlich werden“. Für solche Fälle werden leider nur sechs Produkte angezeigt, für die jeweils ein tabellarisches Profil erstellt wurde, das über einen Link zur ausführlichen Produktbeschreibung des Herstellers führt.
Drei davon sind Apple Watches, Series 9 (449 Euro), SE (279 Euro) und Ultra(899 Euro), die vor allem zur Sturzmeldung dienen. Die beiden teureren Versionen verfügen über weitere Gesundheitsfunktionen, die Menschen mit Demenz eher verwirren dürften.
Der AllroundFinder ist günstig, aber sammelt zu viele Daten
Der Allround Finder der Firma PAJ UG ist dem Prothelis area Tracker ähnlich. Auch hier handelt es sich um ein eigenes Gerät von der Größe eines Smartphones mit einer eigenen speziellen SIM-Karte. Wie der Name sagt kann er alles finden solange dieses Gerät dabei ist: Tiere, Kinder und auch andere Personen mit dem Risiko sich zu verlaufen. Das Gerät erlaubt eine Sofortverfolgung des eigenen Standorts, zeichnet alle Strecken der letzten 365 Tage auf und sendet eine Nachricht,
Der Standort wird nicht über eine App und GPS direkt auf einem Smartphone oder Tablet angezeigt, sondern über das firmeneigene Finderportal und ist auch nur damit kompatibel. Zu dem günstigen Anschaffungspreis für das Gerät von 69,99, aktuell im August 2024 nur 34,99 Euro, kommt daher eine Abo-Gebühr bei einer Laufzeit von einem Jahr von 7,00 Euro monatlich.
Mein Urteil: Mir ist da zu viel Überwachung drin. In dem obigen Szenario war das Geofencing gewählt worden, weil es datensparsam ist, indem es keine Liveverfolgung zulässt. Eine Speicherung aller Strecken über ein ganzes Jahr bringt weder einer Person mit Demenz noch den Angehörigen mehr Sicherheit, sondern ist wegen fehlender Erforderlichkeit eine unzulässige Speicherung personenbezogener Daten und daher nicht empfehlenswert.
Otiom speziell für Menschen mit Demenz
Im Profil des Technikfinders heißt es
„Otiom, ein intelligentes Ortungsgerät aus Dänemark, schützt Menschen mit Demenz vor dem Verlaufen. Es überwacht nicht ständig, sondern aktiviert sich beim Verlassen eines vordefinierten Bereichs. Die Batterie hält einen Monat. Otiom wurde in enger Zusammenarbeit mit Angehörigen, Pflegekräften und Menschen mit Demenz entwickelt.“ Es gibt eine Version für Privatpersonen und eine für Heime.
Otiom für Privatpersonen ist ein Chip ähnlich dem Apple AirTag, etwas größer als eine Zwei-Euro-Münze, und wird über eine App per GPS geortet. Dazu gehört eine Basisstation, die eine Sicherheitszone im Umkreis von 20 m definiert und innerhalb derer das System im Ruhezustand bleibt. Über die App kann zwischen sechs Sicherheitsstufen für die Auslösung eines Alarms gewählt werden, die für unterschiedliche Stufen einer Demenz gedacht sind:
Details über Produktvarianten und Preise findet man nicht auf der Otiom-Homepage, sondern bei Vertragshändlern in ganz Europa. Bei dem deutschen Vertragshändler Syscon Martin werden verschiedene Varianten des Trackers angeboten, zum Umhängen, als Armband oder zur Befestigung an einem Gürtel. Die Preise liegen zwischen 469 und 549 Euro mit lebenslang funktionierender SIM-Karte. Es fallen keine Gebühren für die App oder eine Plattform an, sondern lediglich die Mobilfunkgebühren für die App auf einem Smartphone oder Tablet bzw. für den Internetzugang mit einem PC oder Laptop.
Mein Urteil: Otium erfüllt technisch alle Anforderung an ein Ortungssystem für Menschen mit Orientierungsproblemen und dem Risiko sich zu verlaufen. Es ist datensparsam und zu überschaubaren einmaligen Kosten ohne Abo erhältlich. In der einfachen Ausführung ohne Notruffunktion, die jedoch in einem anderen Modell verfügbar ist. Aber man muss die behauptete Wirksamkeit genau beachten:
Nicht „überall“, sondern nur in als sicher eingestuften und eingerichteten Zonen. Und Sorgen müssen sich Angehörige trotz der Ortungsmöglichkeiten machen. Denn die Ortung verhindert nicht, dass eine sichere Zone verlassen wird, sich die Person also in einen unsicheren Bereich begibt, zum Beispiel auf eine stark befahrene Straße. Vom Auslösen des Alarms bis zum Abholen der Person von der georteten Stelle kann also sehr wohl etwas passieren. Otiom sollte daher nur eingesetzt werden, wenn die betroffene Person sich noch sicher als Fußgänger im Straßenverkehr bewegen kann, nicht einfach auf die Straße läuft, Ampeln und Zenbrastreifen erkennt und ihr Problem wirklich nur die räumliche Erinnerung und Orientierung auf Wegen und Straßen ist. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob nicht auch ein Seniorenhandy mit voreingestelltem Ziel bei Google-Maps über die Sprachausgabe zurück nach Hause bzw. zum Heim führen kann. Denn eine Person, die sich noch sicher im Straßenverkehr bewegen kann, dürfte auch in der Lage sein, die App aufzurufen, wenn sie feststellt, dass sie sich verirrt hat.
Weitere ähnliche Produkte
Die Produktliste in „Mein Technikfinder“ ist mit ihren fünf Produkten recht klein und es stellt sich die Frage, warum gerade die genannten und nicht auch andere verfügbare Produkte gelistet werden. Die Redaktion erklärt dies mit den begrenzten Ressourcen. Der Vertragshändler von otiom empfiehlt in seinem Online-Shop weitere speziell für Menschen mit Demenz entwickelte Geräte, von denen einige so ausgestaltet sind, dass sie nicht versehentlich abgenommen werden oder unterwegs verloren gehen können. Unter der Marke GPS Track werden vier Varianten angeboten. Sie sind allerdings alle weniger datensparsam, weil auch sie die Live-Verfolgung erlauben, dafür haben aber alle eine Notrufunktion. Zu diesen Modellen gibt es einen Flyer mit vielen Screenshots.
Weitere Treffer bei einer Google Suche sind
Auf der Vergleichsseite GPS-Tracker bei Demenz werden sechs weitere Tracker in einer Übersicht und jeweils in ausführlichen Testberichten beschrieben. Der Platz und die Zeit reichen hier nicht aus, um diese näher zu behandeln.
Kostenübernahme durch die Krankenkasse
Wichtig ist noch der Hinweis auf Pflege.de zur Finanzierung:
“Ein GPS-Tracker ist ein Hilfsmittel, auf das gesetzlich Krankenversicherte einen Anspruch haben. Laut Sozialgesetzbuch fällt er unter die Kategorie Hilfsmittel, „die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind.“
"Voraussetzung für die Kostenübernahme ist, dass ein Arzt das Hilfsmittel verordnet. Allerdings bezahlt die Krankenkasse nur Basisgeräte bis zu einem festgelegten Betrag. Alles, was diese Summe überschreitet, trägt der Betroffene selbst. Da moderne GPS-Tracker noch nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sind, müssen Sie bei Ihrer Krankenkasse gegebenenfalls eine Einzelfallentscheidung beantragen."
"Info: Präzedenzfall: Grundbedürfnis der Mobilität. Wer bei seiner Krankenkasse einen GPS-Tracker beantragen will, kann sich auf ein Urteil vom 17. September 2019 (Az: L 16 KR 182/18) berufen. Darin stellt das Landessozialgericht klar, dass GPS-Systeme, die eine Alarmfunktion haben und eine Lokalisierung des Trägers ermöglichen, für Menschen mit Weglauftendenz und Orientierungsstörungen dem Grundbedürfnis der Mobilität dienen.“
Fazit
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass man die Ankündigungen der Hersteller mit Vorsicht lesen und prüfen sollte. Ortungssysteme können orten. Sie bewahren nicht vor dem Risiko des Sich Verlaufens. Sie bieten nur Sicherheit beim Auffinden der Person, die einen Sender trägt, aber nicht deren Sicherheit draußen. Ich denke der Hinweis auf die Verordnung durch einen Arzt ist die beste Schlussfolgerung aus diesem Überblick. Vor einer Verordnung sollte eine Beratung stehen. Der behandelnde Arzt oder die Ärztin kann am besten beurteilen, was ihre Patientin bzw. ihr Patient mit bekannter Demenz kann, welche Risiken draußen bestehen und inwieweit ein Ortungssystem im konkreten Fall ein hilfreiches Hilfsmittel ist.
Für die Entwickler und Anbieter noch der Tip: Mehr Sicherheit für die einen Tracker tragende und gefährdete Person kann geschaffen werden, wenn beim Verlassen einer sicheren Zone nicht nur ein Alarm an Angehörige gesendet wird, sondern der Tracker auch die betroffene Person selbst mit einem Alarmton warnt, so dass diese stehenbleiben und den Notruf betätigen kann, bevor sie sich weiter in Gefahr begibt.
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