Digitale Teilhabe 65 plus

Beobachtungen, Gedanken, Fragen und Tipps
zur Überwindung der Alterslücke bei der Nutzung von digitalen Medien

Portrait: Herbert Kubicek
Prof. Dr. Herbert Kubicek
Jahrgang 1946
Über mich
23.01.2024

DiGA – Steigende Preise ohne nachgewiesenen Nutzen – Der neue Jahresbericht der GKV zu Digitalen Gesundheitsanwendungen

Nachfrage nach DiGAs hat sich 2023 verdoppelt

Nach einem Gutachten für die Kassenärztliche Vereinigung Bayern gab es im Juli 2021 rund 100.000 Apps in den Kategorien Health, Fitness und Medizin im Google Play Store und Apple App Store. Inzwischen dürften es deutlich mehr sein. Sie haben sehr unterschiedliche Funktionen, werden oft mit großen Versprechungen beworben und zu sehr unterschiedlichen Preisen angeboten. Seit Mitte 2020 müssen die Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, wenn es für eine App eine ärztliche Verschreibung gibt und sie in ein neu geschaffenes DIGA-Verzeichnis aufgenommen worden ist.

Nach dem jüngsten E-Health-Monitor des Beratungsunternehmen McKinsey hat sich die Anzahl der Verschreibungen von 2022 auf 2023 mit zuletzt 235.000 Rezepten (Angaben der gesetzliche Krankenkassen) mehr als verdoppelt. Die 40 beliebtesten Apps haben 140 Mio. Downloads erzielt. Dies liege vor allem an der gewachsenen Bereitschaft der Ärztinnen und Ärzte. Ein Drittel habe bereits einmal eine DiGA verschrieben. Sollen Digital-Lotsinnen-und -Lotsen, -Botschafterrinnen und Botschafter und andere Helferinnen und Helfer in ihren Smartphone- und Tablet-Kursen auch solche Apps zeigen? Wie verlässlich sind die Angaben in dem offiziellen DIGA-Verzeichnis für sie und für Fachkräfte in der Gesundheits- und Pflegeberatung? Warum sind einige Apps darin enthalten und andre nicht? Der gerade veröffentlichte dritte Jahresbericht des GKV Spitzenverbandes liefert ein ernüchterndes, wenn nicht sogar skandalöses Lagebild.

Hintergrund und falsche Weichenstellungen

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) wurden 2019 die Bedingungen und Verfahren für die Zulassung und Abrechnung von Apps auf Rezept in der ärztlichen Versorgung festgelegt. Da ein Wirksamkeitsnachweis bei Beantragung einer Zulassung und Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis nicht sofort möglich war, das Ministerium aber die digitalen Hilfsmittel möglichst schnell zur Anwendung bringen wollte, wurde in einem sogenannten Fast-Track-Verfahren eine zweijährige vorläufige Zulassung ohne Nachweise gewährt. Erst nach einem Jahr sollten Befunde vorgelegt werden, um einen dauerhaften Eintrag zu erlangen. Eine Verlängerung um ein Jahr war möglich. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) wurde beauftragt, einen jährlichen Bericht über die Erfahrungen mit den vorläufig aufgenommenen Apps zu erstellen. Am 31.12.2023 wurde der dritte “Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Inanspruchnahme und Entwicklung der Versorgung mit Digitalen Gesundheitsanwendungen“ über das Bundesgesundheitsministerium dem Deutschen Bundestag vorgelegt.

„Die meisten Gesundheits-Apps sind für Patienten nutzlos“

So fasst DER SPIEGEL am 8. Januar das Ergebnis zusammen und zitiert Stefanie Stoff-Ahnis, Vorständin des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV):

„ Die Bilanz zu den DiGA ist von Ernüchterung geprägt…Auch im dritten Jahr nach ihrer Einführung lösen die Gesundheits-Apps nicht ihr Versprechen ein, die gesundheitliche Versorgung grundlegend zu verbessern.« Und noch deutlicher: »Das Geld der Beitragszahlenden soll in eine bessere Versorgung fließen und keine Wirtschaftsförderung finanzieren.«

Dazu einige Fakten aus der Zusammenfassung des Berichts:

Anzahl vorläufig und dauerhaft aufgenommener DiGA

Preisentwicklung

“Die Preise für DiGA können im ersten Jahr von den Herstellern selbst bestimmt werden. Das Spektrum reicht von 119 Euro für eine Einmallizenz (Mawendo) bis 952 Euro für 90 Tage (optimune). Im Durchschnitt liegen die Preise bei fast 500 Euro für ein Quartal und sind gegenüber dem Vorjahreszeitraum noch einmal gestiegen. Dies gilt auch für DiGA, für die trotz Verlängerung kein Nachweis der Wirksamkeit erbracht wurde. So wurde bei der Erprobungs-DiGA Invirto der Nutzen für die Versorgung innerhalb eines Jahres nicht belegt und der Erprobungszeitraum in der Folge um weitere zwölf Monate verlängert. Ungeachtet des seit über einem Jahr unklaren Nutzens wurde der Preis im Zeitraum der Erprobung um 45 Prozent von 428,40 Euro auf 620 Euro erhöht. Unter Berücksichtigung dessen, dass DiGA derzeit ausschließlich ein Add-on zur bestehenden Versorgung darstellen, führt die initiale beliebige Bildung der Preise durch die Hersteller und die zusätzliche Möglichkeit der Preiserhöhung im Erprobungszeitraum zu großen Verwerfungen bei der Vergütung von GKV-Leistungen mit nachgewiesenem Nutzen und konterkarieren den Maßstab der Wirtschaftlichkeit in der GKV.“

Wenn die im Gesetz vorgesehene Schiedsstelle angerufen wird, ändern sich die Preise deutlich: „Bis einschließlich September 2022 sind sechs - überwiegend durch die Schiedsstelle festgesetzte – Vergütungsbeträge in Kraft getreten, die ab dem 13. Monat gelten und an die Stelle der Herstellerpreise aus dem ersten Jahr treten. Diese ersten Vergütungsbeträge reichen von 189 Euro bis 243 Euro und fallen bis zu 67 Prozent niedriger aus als die beliebig gewählten Herstellerpreise. Im Durchschnitt liegen diese Vergütungsbeträge bei 215 Euro je DiGA für ein Quartal.“

Forderung nach Übernahme der DiPA-Anforderungen

"DiGA können grundsätzlich für ein Jahr – bei besonderer Begründung der Wahrscheinlichkeit einer späteren Nachweisführung auch bis zu zwei Jahre – zur Erprobung aufgenommen werden und müssen auch dann von der GKV finanziert werden, wenn der Nutzen der Anwendung nicht belegt ist. Bisher konnte keine der vorläufig aufgenommenen DiGA nach Ablauf der Erprobungszeit von zwölf Monaten dauerhaft aufgenommen werden."

Der Bericht kommt zu dem Ergebnis: „Nach zwei Jahren Erfahrung mit DiGA in der GKV zeigen sich erhebliche Schwachstellen in der regulatorischen Ausgestaltung, aus denen sich als notwendige Konsequenz erste Anpassungsbedarfe ergeben." Empfohlen wird eine Übernahme der späteren und strengeren Regelungen für die Digitalen Pflege-Anwendungen (DIPA): „Dort werden die durch die Pflegekassen zu vergütenden Erstattungsbeträge für DiPA zum ersten Tag der Aufnahme in das DiPA-Verzeichnis verhandelt, wobei eine Erstattungsobergrenze von 150 Euro pro Quartal für die DiPA einschließlich ergänzender Unterstützungsleistungen durch ambulante Pflegeeinrichtungen gilt. Erstattet werden DiPA im Übrigen nur, wenn ihr Nutzen nachgewiesen ist. Eine Aufnahme zur Erprobung, wie bei DiGA, ist nicht möglich. Damit DiGA in der Versorgung ankommen können und sich in einem angemessenen Verhältnis zu anderen GKV- Leistungen bewegen, sind entsprechende Rahmenbedingungen wie bei den DiPA auch für DiGA vorzusehen."

Aber die Anforderungen an DiPA-Nahweise sind nur bedingt erfüllbar

Im Beitrag vom 18.12. habe ich in Bezug auf die Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit argumentiert, dass diese insgesamt kaum und zumindest bis 2025 nicht erfüllt werden können. Für den Nachweis der Wirksamkeit gilt das auch, allerdings aus anderen Gründen.

Viele DiGA ergänzen eine ärztliche Behandlung durch unterstützende von den Patientinnen und Patientinnen auszuführende Aktivitäten, durch Messungen zur Kontrolle von Vitalfunktionen, Anleitungen zu Übungen, Erinnerungen u.a.m.. Es handelt sich um browserbasierte Anwendungen oder native Apps für Smartphones. Die versprochene Wirkung kann nur erzielt werden, wenn die technischen Geräte kompetent genutzt werden und wenn auf die jeweiligen Anzeigen oder Aufforderungen den Vorgaben entsprechend reagiert wird. Neben einer einen hohen Digitalkompetenz ist dazu auch eine gewisse Gesundheitskompetenz erforderlich, z.B. wenn es um das Verständnis von angezeigten Messwerten geht.

Im Abschnitt „Allgemeine Anforderungen an Studien zum Nachweis positiver Versorgungseffekte" schreibt der Leitfaden des BfArM vor, dass ein Hersteller zum Nachweis positiver Versorgungseffekte (pVE) vergleichende Studien vorlegen muss, die „zeigen, dass die Anwendung der DiGA besser ist als die Nichtanwendung. … Das bedeutet: Bei der Patientengruppe, die die DiGA im Rahmen der Therapie nutzt, müssen im Vergleich zu einer anderen Patientengruppe, die keine DiGA nutzt, pVE durch die Nutzung der DiGA nachgewiesen werden.“ Dafür wird eine externe Validität gefordert, d.h. „die Studienpopulation sollte die zugrundeliegende Patientenpopulation möglichst repräsentativ abbilden.“ Dies soll nach wissenschaftlichen Standards verfolgen (S. 103 ff.).

In dem eingangs erwähnten Gutachten für die Kassenärztliche Vereinigung Bayern werden verschiedene wissenschaftliche Standards für Bewertungsverfahren von Medizinprodukten vorgestellt und die für die dauerhaft zugelassenen DiGA vorgelegten Nachweise danach im Detail überprüft. Dabei wird auf zwei Verzerrungseffekte hingewiesen:

Die Nachweise für die zugelassenen DiGA weisen beide Verzerrungseffekte auf. In einem Fall beträgt die Drop-Out-Quote 51%. Überraschend finde ich, dass bei dieser ausführlichen Behandlung verschiedener Methoden und ihrer Grenzen die Frage nach der Digitalkompetenz nicht angesprochen wird, obwohl diese zentral für die Bildung repräsentativer Versuchs- und Kontrollgruppen ist. Wir wissen aus den Umfragen zur Internetnutzung und Digitalkompetenz, dass ältere Menschen häufiger Schwierigkeiten haben, ihr Smartphone oder Tablet richtig zu konfigurieren und auftretende Probleme selbst zu lösen, die Trefferliste bei Google zu verstehen u.a. m. Auch die Medienkompetenz in jüngeren Altersgruppen ist nach den Ergebnissen des Digital-Index ist beim Verständnis und der Problemlösung nur Mittelmaß. Daher müsste eine Versuchs- und eine Kontrollgruppe eine gleiche Verteilung der Medienkompetenz der Teilnehmenden haben und diese müsste repräsentativ für alle Nutzenden der betreffenden DIGA sein. Ich habe keine Ahnung, wie dies bei der Rekrutierung gelingen soll.

Mein Fazit ist, dass noch ein sehr viel intensiverer Austausch zwischen der medizinischen Evaluationsforschung und der Forschung zur Mensch-Maschine-Kommunikation und der Medienpädagogik erforderlich ist, damit die berechtigte Forderung der Krankenkassen - und vermutlich auch der Gemeinschaft der Beitragszahlenden - nach validen Wirksamkeitsnachweisen von DIGA fachgerecht erfüllt werden kann.

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