Petition für Digitales Existenzminimum als erster Schritt
Sechs Forderungen
Die Diakonie Deutschland, das Armutsnetzwerk e.V. und der evangelische Verband Kirche, Wirtschaft, Arbeitswelt (KWA) haben in dieser Woche ein gemeinsames Positionspapier mit sechs Forderungen für ein digitales Existenzminimum vorgelegt. Dabei haben sie vor allem Leistungsberechtigte von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe (Grundsicherung/ Bürgergeld) im Blick. Die Überschriften lauten:
(1) Endgeräte für alle,
(2) Kostenlose Internetcafes & WLAN im öffentlichen Raum,
(3) In digitale Kompetenzen investieren,
(4) Bürgerfreundliche öffentliche Behörden,
(5) Menschen mit Armutserfahrung empowern,
(6) Ein Recht auch auf analoges Leben.
Alle regelmäßigen Umfragen belegen, dass vor allem Menschen mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsniveau offline sind oder Minimal-Onliner und diese in der Zielgruppe überproportional vertreten sind. Daher finde ich die ersten drei Forderungen gut begründet, die vierte und fünfte gut gemeint und die sechste naiv, wie schon in früheren Beiträgen erläutert. Die ersten Forderungen wurden für ältere Menschen auch von der Kommission für den Achten Altersbericht erhoben.
Erstmals eine (unrealistische) Kostenschätzung
Die Diakonie hat zu den ersten fünf Forderungen konkrete Maßnahmen vorgeschlagen und deren Kosten geschätzt. Gefordert werden Computer oder Laptops mit Drucker für alle, Kurse und Coaching, öffentliches WLAN u.a.m. Es ist gut konkrete Maßnahmen zu nennen. Aber in diesem Papier werden sie nicht hinreichend spezifiziert.
Zur Wirksamkeit von Schulungsmaßnahmen in Bezug auf Kompetenzerwerb und Verhaltensänderungen, Lernmotivation bei den Leistungsberechtigten, Teilnahmequoten und Mitnahmeeffekte finden sich leider keine Überlegungen.
Kosten sind nicht der Hauptgrund, nicht online zu sein
Ein grundlegender konzeptioneller Mangel der Kostenschätzung und damit der Umsetzungsplanung der Forderungen besteht in der Annahme, dass es vor allem an den Kosten von Zugang und Kompetenzerwerb liegt, dass so viele Leistungsberechtigte nicht online sind oder digitale Medien nur sehr eingeschränkt nutzen. Die seit mehr als zehn Jahren durchgeführten jährlichen Umfragen zur Internetnutzung und -nichtnutzung belegen, dass andere Gründe maßgeblich sind. In den Umfragen des Digitalindex der Initiative D 21 kommen finanzielle Gründe weit nach den Hauptgründen, dass kein persönlicher Nutzern erkannt wird, generell kein Jnteresse besteht, klassische Medien ausreichen oder das alles zu kompliziert sei (Kubicek 2022, S. 31). In der Bremer Umfrage zur Internetnutzung im Alter mit 11.000 befragten Personen ab 60 Jahre sind auch dies die Hauptgründe. Nur 35 Prozent haben gesagt die laufenden Kosten seien zu hoch und ebenso viele die Anschaffungskosten seien zu hoch (S. 109).
Bedarf ist nicht gleich Nachfrage
Vor allem ist es nicht vertretbar, bei der Kostenschätzung von der Gesamtzahl der Leistungsberechtigten auszugehen. Nicht alle sechs Millionen haben einen Bedarf an Grundausstattung, Kursen und Coaching. Es gibt zum Beispiel vorübergehend arbeitslose Ingenieure mit guter Ausstattung und guten Kenntnissen. Auf der anderen Seite gibt es bei den Langzeitarbeitslosen solche mit geringer Bildung und teilweise auch mangelndem Selbstvertrauen. Bei ihnen kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil entsprechende Angebote auch nachfragt und erst recht nicht an ihnen erfolgreich teilnehmen wird. Denn an eine Sanktionierung bei Nichtteilnahme ist ja wohl nicht gedacht. In der Bremer Umfrage wurde differenziert nach verschiedenen Formen der gewünschten Unterstützung durch Sprechstunden, eine telefonische Hotline und Hausbesuche gefragt. Bei der Hochrechnung von diesen Bedarfsäußerungen auf die zu erwartende Nachfrage wurden verschiedene Szenarien mit unterschiedlichen Annahmen zum Prozentanteil der tatsächlichen Nachfrage und der Häufigkeit der Inanspruchnahme gebildet ( Kubicek 2022, S. 141 ff.)
Trotzdem ein guter erster Schritt
Ich bin mir nicht sicher, ob es taktisch klug ist, eine Kostenschätzung mit so pauschalen Annahmen ohne gründliche Recherchen zu veröffentlichen. Sie schafft Aufmerksamkeit für ein soziales Problem und liefert die Gründe für die Ablehnung der Forderungen gleich mit. Auch wenn man dieses soziale Problem nicht gegen andere ausspielen sollte, bleibt aktuell angesichts der Inflation bei den Lebenshaltungskosten die Frage nach den Prioritäten der Bundesregierung Bezug auf die Finanzierung und die politischen Umsetzung . Es ist richtig:
"Die Sicherung des Existenzminimums darf nicht mehr nur als Grundversorgung mit Lebensmitteln, Kleidung, Wohnraum und Mobilität verstanden werden. Heute braucht es auch ein digitales Existenzminimum. ...." Wie die finanziellen Nöte der Tafeln zeigen, ist die Grundversorgung mit Lebensmitteln zurzeit nicht gewährleistet. Und noch (!) bedeutet offline zu sein in den meisten Fallen noch keine starke ExklusionNeben dem Positionspapier und der Kostenschätzung haben die Initiatoren auch eine Petition an Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil formuliert und online gestellt. Ich habe sie trotz meiner Kritik an Details unterzeichnet und möchte dies allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs empfehlen. Denn Petitionen sind ein Grundrecht und die zuständigen Stellen, an die sie gerichtet sind, müssen antworten. Dazu müssen sie sich mit der Problematik auseinandersetzen. Wie immer die Antwort ausfallen wird, sie ist ein Anknüpfungspunkt für nächste Schritte.
Die Bremer Umfrage als Orientierung
Als nächster Schritt bietet sich eine ähnliche Umfrage unter den Leistungsberechtigten an, wie sie in Bremen für ältere Menschen durchgeführt wurde. Im Auftrag des Senats sollten damit folgende Fragen beantwortet werden:
Der Fragebogen ist als Anhang des Berichts veröffentlicht.
Um die erforderlichen Teilnahmequoten für die Schätzung der wahrscheinlichen Nachfrage zu ermitteln, liefert eine solche Umfrage keine verläßliche Basis. Dazu sind Pilotprojekte erforderlich. So könnten in zehn oder zwölf Bezirken mit unterschiedlicher Zusammensetzung der Leistungsberechtigten die vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt werden und Erfahrungen und valide Daten für eine bundesweite Ausbreitung gewonnen werden.
Die Quellenangabe Kubicek 2022 bezieht sich auf mein Buch Digitale Teilhabe im Alter, das hier heruntergeladen werden kann.