Zum Tag der älteren Menschen: (Nichts) Neues vom Berliner Altenhilfestrukturgesetz
Heute am 1. Oktober ist wieder der Tag der älteren Menschen, auch Welt-Seniorentag oder Tag der älteren Generation genannt. Daher war ich gespannt, was aus der Politik zu diesem Anlass zum Thema Digitalisierung und Teilhabe verkündet wird. Eine kombinierte Suche bei Google und Bing hat keine Treffer erzielt. Schon gestern hatte ich eine Pressemeldung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege zu dem schon vor zwei Jahren erwähnten Berliner Altenhilfestrukturgesetz gefunden (Beitrag vom 5.7.2022).
Aus aktuellem Anlass nichts Neues
Darin heißt es:
"Anlässlich des morgigen Internationalen Tages des älteren Menschen, mit dem die Vereinten Nationen seit dem Jahr 1990 auf die Herausforderungen und Potenziale des Älterwerdens aufmerksam machen, bekräftigt das Land Berlin sein Engagement für eine zukunftsfähige Altenhilfe und Seniorenpolitik. Für das gesellschaftliche Klima in einer Stadt mit 25 Prozent über 60-Jähriger ist es essenziell, älteren Menschen mit bedarfsgerechten Angeboten die Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen und den Erhalt der Lebensqualität zu sichern. .... Vor diesem Hintergrund plant Berlin einen wichtigen Schritt zur Modernisierung der Altenhilfe und arbeitet derzeit an einem Gesetzesentwurf zur Weiterentwicklung der bestehenden Strukturen als wesentlicher Bestandteil der Daseinsvorsorge – das sogenannte Altenhilfestrukturgesetz. Ziel ist es, Schwierigkeiten, die sich durch das Alter ergeben, zu vermeiden oder abzuschwächen und älteren Menschen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dafür ist es erforderlich, dass künftig grundlegende Rahmenbedingungen und Mindestanforderungen für die Ausgestaltung der Altenhilfe in allen Berliner Bezirken existieren."
Die zuständige Senatorin Dr. Ina Czyborra wird mit dem Satz zitiert: "Die zuständige Senatssozialverwaltung arbeitet kontinuierlich an der Weiterentwicklung des Gesetzes und der Leitlinien, damit Berlin auch in Zukunft eine lebenswerte Stadt für ältere Menschen bleibt." Wer gerne genauer gewußt hätte, was in dem Gesetz steht und wie weit die Entwicklung fortgeschritten ist, wird enttäuscht. Es gibt keine näheren Angaben in diesem Text und auch keinen Link zu vertiefenden Informationen - obwohl es diese durchaus gibt.
Die Vorgeschichte
Der Prozess begann schon 2019: Die Kommission für den Siebten Altersbericht hatte sich mit den strukturellen Bedingungen für eine verlässliche, am Inklusionsgedanken orientierte Altenhilfe befasst. In ihrem Bericht mit dem Titel "Sorge und Mitverantwortung in der Kommune - Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften"" vom November 2016 fordert sie die Bundesregierung auf, die kompetenzrechtlichen Voraussetzungen für ein Leitgesetz für den Aufbau und die Verstetigung verlässlicher Altenhilfestrukturen nach § 71 SGB II durch ein Bundesgesetz zu prüfen und zu klären.
Die Senior:innenvertretung Tempelhof-Schöneberg hat diesen Prozess, die Kernpunkte des Gesetzesentwurfs und einen Vorschlag für das weitere Vorgehen im Mai 2023 in einer Präsentation übersichtlich zusammengefasst.
Aktueller Stand und weitere Planung
Der aktuelle Stand und die weitere Planung können der Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke sowie mehreren Ausgaben eines Newsletters der Senatsverwaltung entnommen werden.
Die Senatsverwaltung hatte zur Vorbereitung eines Gesetzesentwurfs eine „Gerontologische Expertise zur Identifizierung von Einzelleistungen nach § 71 SGB XII“ und ein Gutachten zu den „Anforderungen an eine landesgesetzliche Regelung für eine versorgungssichernde Altenhilfe-Infrastruktur und -planung im Land Berlin“ in Auftrag gegeben. Diese wurden Ende 2023 vorgelegt. Die Ergebnisse sind im Newsletter II vom Januar 2024 und in der Antwort auf die Kleine Anfrage kurz zusammengefasst. In dieser Antwort wird auch begründet, warum der Entwurf der Landesseniorenvertretung formal und inhaltlich noch nicht für eine parlamentarische Beratung geeignet ist. Insbesondere werden genauere Berechnungen der mit der Umsetzung verbundenen Kosten und die Klärung einer Reihe rechtlicher Fragen wie die der konkret zu erbringenden Leistungen, des berechtigten Personenkreises und der Abgrenzung zu anderen Leistungen der Sozialhilfe angekündigt.
Im Newsletter IV vom Juli 2024 wird die weitere Planung vorgestellt:
Die Verabschiedung soll bis Ende der Legislaturperiode 2026 erfolgen.
Diese Schilderung des Prozesses ist nicht als Kritik zu verstehen, sondern soll aufzeigen, dass die Forderung nach einer verbindlichen gesetzlichen Regelung zwar einfach zu erheben ist, die Umsetzung jedoch organisatorisch, rechtlich und vor allem finanziell höchst kompliziert ist und selbst erhebliche Ressourcen erfordert. In Flächenländern dürfte dies noch um ein Vielfaches komplizierter und aufwendiger sein.
Die gerontologische Expertise zur Identifizierung von Einzelleistungen
Eine zentrale Frage ist dabei stets welche Leistungen für welche Zielgruppen verpflichtend erbracht werden sollen. Eine Antwort darauf sollte das Gutachten aus gerontologischer Sicht liefern. Dies ist allerdings nur bedingt gelungen und für den Bereich der Digitalen Teilhabe etwas enttäuschend.
Verschiedene Altersdefinitionen
Sehr hilfreich für alle an dem Thema Interessierten ist die umfassende und differenzierte Klärung, wer in welcher Hinsicht mit der Bezeichnung "alte" oder "ältere Menschen" gemeint ist und was daraus folgt. Dazu werden auf der Basis einer Literaturrecherche Definitionen des kalendarischen und des sozialen Alters sowie Altersdefinitionen nach Lebenslagen wiedergegeben und im Hinblick auf ihre Eignung für eine Eingrenzung von Adressierten kommunaler Altenhilfe diskutiert. Der Fokus wird bei den Lebenslagen auf soziale Ungleichheit gelegt. Diese werden insbesondere in Bezug auf Gesundheit/Krankheit, den "Digital Divide", Partizipation und das Erwerbsleben näher behandelt, als nicht altersspezifisch eingeschätzt, aber als durch das alter verstärkt beurteilt. Als Ergebnis wird "Ungleichheit"durch die jeweiligen Spielräume in verschiedenen Lebenslagen definiert und jedwede generell Altersdefinition als Hauptkriterium abgelehnt.
Sieben Kategorien von Handlungsspielräumen
Anstelle der sechs in § 71 SGB XII genannten Leistungsbereiche werden sieben eher akademisch formulierten Lebenslagen im Sinne von ungleichen Handlungsspielräumen vorgeschlagen, nach denen der Bedarf an Beratung sowie Sach- und Geldleistungen ermittelt und Leistungskataloge entwickelt werden sollen:
Verständlich werden diese Kategorien erst in drei Tabellen, in denen sie für das dritte, das vierte und das fünfte Alter mit entsprechenden Einzelleistungen konkretisiert werden ( Seite 191 bis 193). Für das vierte Alter, kalendarisch etwa 75 bis 84 Jahre und sozial gekennzeichnet durch die Ausdünnung sozialer Netzwerke, beginnende körperliche und kognitive Einschränkungen und eine kritische Überprüfung der Wohnsituation, erfolgt die Konkretisierung durch die Tabelle in Abbildung 1:
Einzelleistungen für die Lebenslagen im Vierten Alter
Zu wenig zu digitaler Teilhabe
Enttäuschend ist diese Konkretisierung in Bezug auf Einzelleistungen zur digitalen Teilhabe. Nachdem Ungleichheiten durch den Digital Divide auf mehreren Seiten behandelt wurden, entsprechen die Vorschläge "Beratung zur Nutzung von Apps und Digitalen Plattformen" sowie die "Kostenübernahme für analoge und digitale Vernetzung (z.B. Telefon, Internet und WLAN") nicht dem Stand der aktuellen Fachdiskussion, wie sie etwa der Achte Altersbericht zusammenfasst. Dies ist so um so erstaunlicher, als bei der Erörterung von Beratungsformen immer auch die Online-Beratung als kostengünstige Option erwähnt wird. Aber es wird nicht darauf eingegangen, was für die drei Altersgruppen jeweils getan werden muss, damit möglichst viele diese Beratungsform auch in Anspruch nehmen können. Der Begriff "Digitale Kompetenzen" kommt im gesamten Gutachten kein einziges Mal vor. Diese Schwäche scheint den Autorinnen bewußt zu sein. Denn sie schreiben:
"In Hinsicht auf aktuelle Entwicklungen wirken sich Optionen und Bedingungen der Digitalisierung und Technisierung aber durchaus inhaltlich auf die Konzeption und Vorhaltung von Einzelleistungen aus, weil sie im Alltag die Ziele nach § 71 SGB XII unterstützen können (z. B. digitale Zugänge der Teilhabe, digitale und technische Unterstützungssysteme in der Wohnung). Die mit Digitalisierung und Technisierung einhergehenden Chancen, aber auch Herausforderungen für ältere Menschen sind in der sogenannten Altenhilfe noch stärker als Querschnittsthema in den Blick zu nehmen."
Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen!
Weitere Infos: Gerontologisches_Gutachen_Einzelleistungen.pdfAnsehen