Digital Only PLUS - Gesetzlicher Anspruch auf analoge Dienstleistung oder auf bedarfsgerechten Support ?

Zwei aktuelle Forderungen zur Digitalen Teilhabe an die neue Bundesregierung
Anlass für diesen Beitrag sind zwei gegensätzliche Forderungen mit Bezug auf den aktuellen Koalitionsvertrag (pdf). Dort steht
Gesellschaft – digital kompetent, selbstbestimmt und inklusiv
Der souveräne, sichere und kritische Umgang mit digitalen Tools und Medien steigert die Resilienz unserer Gesellschaft, die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Wir starten deshalb eine altersübergreifende Kompetenzoffensive. Hierfür nutzen wir die Vielfalt von Start-ups, Wirtschaft, öffentlichen Bildungsträgern und Sozialverbänden, um innovative und nachhaltige Angebote für alle Bevölkerungsgruppen zu schaffen. In einer zunehmend vernetzten Welt gewährleisten wir allen digitale Teilhabe und stärken die Barrierefreiheit. …." (2224 – 2230)
Wie auch andere Wohlfahrtsorganisationen hält die AWO in einer Stellungnahme eine Kompetenzoffensive für nicht ausreichend und fordert einen gesetzlichen Anspruch auf digitale Teilhabe, der auch die Sicherstellung analoger Zugänge beinhaltet:
"Ausbleibendes: Digitale Teilhabe ≠ „Digital Only"
„Zwar wird digitale Teilhabe erwähnt, aber ein echter Rechtsanspruch auf digitale Teilhabe – wie ihn die AWO fordert – fehlt. Noch kritischer: Die Bundesregierung spricht davon, Verwaltungsleistungen vorrangig digital („Digital Only“) zugänglich zu machen. Für die AWO ist klar: Das darf nicht zur neuen Hürde werden.
Wir setzen uns explizit für die Sicherstellung analoger Zugänge ein – gerade für Menschen in komplexen Lebenslagen, mit geringem Einkommen, Sprachbarrieren oder Unterstützungsbedarf. Die Möglichkeit, persönlich, analog und begleitet Anträge zu stellen, ist ein integraler Bestandteil sozialstaatlicher Verantwortung und darf durch technische Innovation nicht ausgehöhlt werden."
Dem widerspricht der Präsident der Initiative D21 Marc Reinhart vehement:
„Ein solches Recht würde den Status quo zementieren, Fortschritt verhindern und wertvolle Ressourcen binden, die wir dringend für eine zukunftsfähige Verwaltung benötigen. Wir brauchen keine analogen Parallelstrukturen mehr, sondern endlich ein inklusives und verantwortungsbewusstes "Digital Only"-Leitbild. … Unterstützungsangebote, die auch digitalfernen Bürger*innen einfach und schnell helfen, digitale Angebote zu nutzen, sorgen dafür, dass niemand ausgeschlossen wird.“Das hat die Iniiaitve D21, ein gemeinnütziger Verein mit 140 Unternehmen und Organisationen als Mitglieder, in Digitalpolitischen Forderungen an die neue Bundesregierung ausführlicher gefordert. Insgesamt sind es drei Forderungen:
- Ein digitaler Staat ist ein leistungsfähiger Staat: Wir fordern ein rechtsverbindliches „Digital Only“-Leitbild für Staat und Verwaltung, das digitale Prozesse zum Standard macht. Anstatt ein „Recht auf Analog“ zu etablieren, setzen wir auf gezielte Unterstützungsangebote für jene Bevölkerungsgruppen, die Hilfe beim Zugang zu digitalen Dienstleistungen benötigen – innerhalb eines konsequent zunehmenden digitalen Ökosystems.
- Eine resiliente Gesellschaft ist eine digital kompetente Gesellschaft: Wir fordern eine umfassende Offensive zur Förderung digitaler Kompetenzen, die über Ebenen, Institutionen und Zuständigkeiten hinweg alle Bevölkerungsgruppen befähigt, souverän und selbstbestimmt in der digitalen Welt zu agieren.
- Ein sicheres digitales Deutschland ist ein resilientes Deutschland: Wir fordern eine zentrale Koordinierungsstelle für Cybersicherheit, die die strategische Stärkung der digitalen Sicherheit in der Bevölkerung vorantreibt und hilft, Bedrohungen durch Kriminalität, Manipulation und Desinformation wirksam zu begegnen.
Während zu den gezielten Unterstützungsmaßnahmen bei Digital Only keine näheres Angaben gemacht werden, gibt es zu der zweiten Forderung eine eigenen Vorschlag für eine "Nationale Digitale Kompetenzoffensive" nach dem Vorbild Österreichs , mit der EU-Vorgaben umgesetzt werden sollen:
“Das Ziel dieser Offensive ist, mündige Bürger*innen zu fördern, die aktiv an digitaler Wertschöpfung teilnehmen, souverän mit Informationsfluten und gezielter Meinungsmanipulation umgehen, Hass und Hetze begegnen und die Digitalisierung ihres Alltags als Erleichterung und Bereicherung erleben. Hierfür braucht es umfassende Bildungs- und Sensibilisierungskampagnen in allen Lebensbereichen - von der Schule bis zur Altenhilfe. Eine solche Offensive erhöht die Chancengleichheit und fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer zunehmend vernetzten Welt.
Um die Ziele der Digitalen Dekade zu erreichen und Deutschland zum Vorreiter bei digitalen Kompetenzen zu machen, orientiert sich die Bundesregierung am EU-Kompass. Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen ambitionierte nationale Ziele verwirklicht werden:
- Nationaler Referenzrahmen: Digitale Fähigkeiten werden klar definiert, messbar gemacht und sind dadurch vergleichbar. Auf diese Weise können Fortschritte besser evaluiert sowie Maßnahmen und Programme gezielt optimiert werden.
- Digitale Basiskompetenzen: Mindestens 80 % der Bevölkerung sollen bis 2030 grundlegende digitale Fähigkeiten erworben haben. Damit rückt das Ziel einer breit aufgestellten, partizipativen Digitalgesellschaft in greifbare Nähe.
- IKT-Fachkräfte: Der Anteil steigt um mindestens 30 %, mit besonderem Fokus auf weibliche Fachkräfte. Dadurch wird nicht nur dem Fachkräftemangel in der IT-Branche begegnet, sondern auch ein Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit geleistet".
Die konkreten Inhalte werden nicht genannt. Sie sollen zwischen Bund, Ländern und Kommunen koordiniert und mit Stakeholdern aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft abgestimmt werden, um deren Commitment zu sichern. Am stärksten gefordert sind die Kommunen, koordiniert werden soll die Offensive jedoch durch das Bundeskanzleramt.
Auf den ersten Blick liegen diese Positionen der Sozialverbände wie der ASO und der Initiative D21 als eine wirtschaftsnahe Organisation weit auseinander und man könnte zweifeln, ob es zu einer gemeinsam getragenen Offensive kommen kann. Aber es lohnt sich, die Stellungnahmen genauer anzuschauen. Vielleicht liegen sie ja doch nicht so weit auseinander.
Gegen digitalen Zwang – Zum Recht auf analogen Zugang
In mehreren Beiträgen habe ich mich gegen die Forderung der BAGSO und anderer Sozialverbände für ein Recht auf analoges Leben nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen gewendet, weil ich es für absolut unerreichbar halte und die erforderliche Energie für Verbesserungen der sozialen Teilhabe in realistischere Bahnen gelenkt werden sollte. Angesichts der wiederholten Forderungen lohnt jedoch ein aktueller Blick auf die juristische Debatte.
Digital Only nur mit Ausnahmen
Im Zusammenhang mit der Verpflichtung der Behörden nach § 1a Online-Zugangsgesetz (OZG) Verwaltungsleistungen auch(!) online anzubieten wurde u.a. in einer Petition eingewendet, damit drohe ein verfassungswidriger Grundrechtseingriff für die Bürgerinnen und Bürger. Aus Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“) lasse sich ein Recht auf analogen Zugang bzw. freie Wahl der Kommunikationskanäle ableiten. Es sei ein unzulässiger „Digitalzwang", wenn Bürgerinnen und Bürger sich ein Smartphone oder Tablet anschaffen und entsprechende Apps nutzen müssen, um eine ihnen zustehende Leistung der Verwaltung in Anspruch nehmen zu können.
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat im Juni 2024 in einer Dokumentation (pdf) Stellungnahmen aus einer Anhörung zum OZGÄndG, aus der rechtswissenschaftlichen Literatur und der Rechtsprechung vorgelegt. Darin wird die Frage nur für Verwaltungsleistungen für Bürgerinnen und Bürger geprüft. Für die Beziehung zu Unternehmen gelten wegen des sog. Grundsatzes der Privatautonomie andere Maßstäbe. Und bei den Verwaltungsleistungen besteht Einigkeit, dass die für Unternehmen ausschließlich digital angeboten werden dürfen, während dies bei Leistungen für Bürgerinnen und Bürger mit unterschiedlichen Begründungen strittig ist.
Aus meiner Sicht ist die erkennbare herrschende Meinung hier, dass „Digital Only“ als Regelfall dann nicht gegen Grundrechte verstoßen würde, wenn es Ausnahmen für Härtefälle gibt. Ob diese in ihrer jeweiligen Ausgestaltung gegen Grundrechte verstoßen, ist im Einzelfall letztlich durch die Gerichte zu entscheiden.
Diese sind haben bisher nicht bürgerfreundlich entschieden. In der Dokumentation werden zwei Urteile zitiert, in denen Antragsteller gegen ausschließlich online zu stellende Anträge geklagt haben. Deren Klage wurde abgewiesen, weil es ja auch möglich sei, dass Bekannte den Antrag online ausfüllen.
Gesetzliche Beratungs- und Unterstützungspflicht
Mit dem OZGÄndG wurden Bund und Länder in § 3a zu einer Beratung und Unterstützung bei der Nutzung ihrer Verwaltungsleistungen verpflichtet:
„(1) Bund und Länder stellen für Nutzer im Portalverbund eine allgemeine fachunabhängige, barrierearme Beratung für die Abwicklung ihrer über Verwaltungsportale angebotenen, elektronischen Verwaltungsleistungen bereit und bestimmen dafür öffentliche Stellen. Diese öffentlichen Stellen unterstützen Nutzer bei der Abwicklung von Verwaltungsleistungen im Portalverbund.“
Wenn mit der Forderung nach analogem Zugang nicht die bisherige Papierform gemeint ist, sondern einer ohne „Digitalzwang“, dann wird die zitierte Forderung der AWO nach einer gesetzlichen Regelung hiermit für diesen begrenzten Anwendungsbereich erfüllt. Denn diese Unterstützung soll wie an anderer Stelle beschrieben per Telefon über die Rufnummer 115 erfolgen oder, wie zum Beispiel in Hamburg, über Digitallotsen in den Servicestellen der Verwaltung.
In Teil 2 geht es darum, wie auf der anderen Seite die Vorschläge für die Kompetenzoffensive ergänzt werden sollten.