Fragwürdiger Nutzen der elektronischen Patientenakte. Die "Zeitenwende" wird etwas dauern.
Aktuell kaum Zweifel am Nutzen der ePA
In diesen Tagen wird viel über die elektronische Patientenakte (ePA) berichtet und diskutiert. Kritik richtet sich vor allem auf Sicherheits- und Datenschutzprobleme und eine komplizierte Benutzung beim Einrichten der App und bei der Differenzierung der Zugriffsrechte. Der behauptete Nutzen für die Patientinnen und Patienten wird hingegen kaum hinterfragt.
In meinem Beitrag vom 4.2.2024 hatte ich schon gezeigt, dass die ePA, so wie sie heute gefüllt wird, ein buntes Durcheinander von Dokumenten in unterschiedlichen Formaten beinhaltet, in denen eine Ärztin oder ein Arzt vor einer Verschreibung nicht ohne weiteres feststellen kann, ob eine Doppelmedikation oder Unverträglichkeit vorliegen kann, weil nicht nach einem bestimmten Dokument gesucht werden kann. Mit dem eRezept geht das, aber mit analogen Rezepten, die als jpg hochgeladen werden, geht das nicht ohne weiteres. Der behauptete gesundheitliche Nutzen hängt daher davon ab, ob sich die Ärztin oder der Arzt die Zeit nehmen, die verschiedenen Dokumente mit unterschiedlichen Bezeichnungen einzeln zu öffnen und nachzusehen, ob darin etwas für eine aktuelle Medikation Relevantes zu finden ist. Das ist aber nur eine von mehreren Voraussetzungen für die behaupteten Vorteile.
Angebliche Vorteile für die Patientinnen und Patienten
Minister Lauterbach lobt sein nun endlich bundesweit gestartetes Projekt als Zeitenwende in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Auf den Seiten seines Ministeriums werden folgende Vorteile genannt:- Ihre Ärztin hat Ihre Medikamente sofort auf dem Schirm: Die ePA wird – dank einer Verknüpfung mit dem E-Rezept – für Sie eine automatisiert erstellte digitale Übersicht mit Ihren Medikamenten enthalten. Das unterstützt den gesamten Prozess von der Verschreibung bis zur Abgabe eines Arzneimittels und kann ungewollte Wechselwirkungen verhindern.
- Lästiges Suchen in der Krankengeschichte ist bald Vergangenheit: Im Rahmen Ihrer Behandlung können alle beteiligten Leistungserbringer auf die in der ePA gespeicherte Krankengeschichte (z.B. Arztberichte, Befundberichte) zugreifen. Das spart Zeit und erleichtert den Behandlungsprozess erheblich! Auch können unnötige Doppeluntersuchungen vermieden und die Behandlung bei einem anderen oder einem neuen Arzt erleichtert werden.
- "Zentraler Zugriff auf Gesundheitsdaten: Patientinnen und Patienten haben jederzeit und überall Zugriff auf ihre Gesundheitsinformationen. Dies erleichtert den Austausch von Informationen mit Ärzten und anderen Gesundheitsdienstleistern.
- Bessere Koordination der Behandlung: Durch die zentrale Speicherung der Daten wird die Kommunikation zwischen verschiedenen Ärztinnen und Ärzten und Fachrichtungen verbessert. Dies führt zu einer besseren Koordination der Behandlung und vermeidet Doppeluntersuchungen.
- Erhöhung der Patientensicherheit: Durch den Zugriff auf vollständige und aktuelle Informationen können Ärztinnen und Ärzte fundiertere Entscheidungen treffen. Dies reduziert das Risiko von Fehlbehandlungen und Medikamentenwechselwirkungen."
Die Verbraucherzentrale sieht dies ähnlich und nennt neben organisatorischen Aspekten wie dem leichteren Arztwechsel und der Übermittlung von Befunden vor einem Krankenhausaufenthalt als Vorteil:
"Unnötige Doppeluntersuchungen entfallen. Im Notfall liegen alle wichtigen Informationen gesammelt und schnell vor. Ärztinnen und Ärzte haben einen besseren Überblick über Ihre Krankengeschichte. Überweist Ihre Hausärztin Sie zum Beispiel an einen Facharzt, kann dieser die Dokumente zu Ihrem Behandlungsfall einsehen und seinen eigenen Bericht direkt in die elektronische Patientenakte hochladen."
Der Notfallmediziner Christian Karagiannidis antwortet im Interview mit SWR Aktuell "mit einem klaren JA", auf die Frage, ob die ePA Leben retten könne:
"Wir haben heute das Problem, das wir an vielen Stellen immer noch darauf angewiesen sind, dass die Patientinnen und Patienten uns sagen, was sie haben, was sie vielleicht als Vormedikation eingenommen haben, was sie an Allergien haben und und und. Das geht gerade in Notfallsituationen verständlicherweise nicht immer. Und wenn ich da vielleicht Zugriff auf die elektronische Patientenakte bekomme und wenn da vielleicht drin steht, da gibt es eine schwere Allergie auf Wespenstiche, dann habe ich einen unglaublichen Wissensvorsprung, den ich im Moment nicht habe."(Eigenes Transskript)
Für ein klares JA sind mir da zwei "vielleicht" zu viel, und es ist wirklich ein "unglaublicher Wissensvorsprung", aber anders als Herr Karagiannidis das meint, nämlich im wörtlichen Sinne.Vorerst nur die Geschichte der eRezepte
Im Gegensatz zu den vollmundigen Verheissungen des Ministers und den eben zitierten Nutzen-Behauptungen einer jederzeit verfügbaren Krankengeschichte kann man auf den Seiten des Gesundheitsministeriums herausfinden, was man auf absehbare Zeit tatsächlich als Nutzen von der ePA erwarten kann: Vorerst nur die Geschichte der E-Rezepte. Nur die können mit Gewissheit auf Doppelmedikation und Unverträglichkeit geprüft werden. Denn alle ausgestellten eRezepte werden automatisch hochgeladen. Daher kann sich ein Arzt auf deren Vollständigkeit verlassen. Ausserdem müssen Arztbriefe und Befundberichte eingestellt werden. Hinweise auf Allergien sind nicht vorgesehen.
Laborbefunde und die elektronische Patientenkurzakte (ePKA) sollen erst später hinzukommen. Die ePKA enthält alle auf der Gesundheitskarte gespeicherten Daten. Der Verband der Ersatzkassen kündigt an:
"Die Überführung ist dabei auch für bisher auf der eGK gespeicherte Hinweise des Versicherten auf das Vorhandensein und den Aufbewahrungsort von Organspendeerklärungen, Vorsorgevollmachen oder Patientenverfügungen vorgesehen."
Ich dachte, die Daten aus der Gesundheitskarte wären die ersten, die automatisch in die ePA überführt werden.
Was ist mit den früheren analogen Rezepten?
Wie in dem eingangs zitierten Beitrag vom April des vergangenen Jahres gezeigt wurde, kann man seine älteren Rezepte fotografieren und selbst hochladen. Aber es bleibt fraglich, wer sich die Mühe macht, die einzelnen aufzurufen und durchzusehen.
Interessant ist in diesen Zusammenhang ein Hinweis auf der gerade zitierten Seite des Ministeriums:
"Versicherte können ihre Krankenkasse auffordern, in Papierform vorliegende medizinische Informationen digitalisiert in die ePA zu übertragen.
Dabei handelt es sich um einen gesetzlichen Anspruch, den der Gesetzgeber selbst jedoch erheblich eingeschränkt hat, denn es dürfen innerhalb von 24 Monaten nur zwei Mal zehn Dokumente angefordert werden:
§ 350a SGB V
Anspruch der Versicherten auf Digitalisierung von in Papierform vorliegenden medizinischen Informationen; Übertragung in die elektronische Patientenakte
"(1) Versicherte haben ab der Zurverfügungstellung der elektronischen Patientenakte gemäß § 342 Absatz 1 Satz 2 einen Anspruch darauf, dass die Krankenkassen auf ihren Antrag und mit ihrer Einwilligung in Papierform vorliegende medizinische Informationen gemäß § 341 Absatz 2 Nummer 1 Buchstabe a und d digitalisieren und über den Anbieter der elektronischen Patientenakte in die elektronische Patientenakte übermitteln und speichern. Der Anspruch nach Satz 1 kann je Versicherten zweimal innerhalb eines Zeitraumes von 24 Monaten geltend gemacht werden und ist jeweils auf zehn Dokumente begrenzt."
Damit wird die Behauptung, dass die ePA "bald" eine vollständige Krankengeschichte beinhaltet, stark relativiert. Wenn jemand in den vergangenen zehn Jahren im Durchschnitt nur fünf Rezepte, Laborbefunde und Arztberichte pro Jahr erhalten hat und von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, dann dauert es zehn Jahre bis diese ePA für diesen Zeitraum vollständig ist und die Datenbasis für die behaupteten gesundheitlichen Vorteile geschaffen ist.
Vollständigkeit ist die Voraussetzung für Verlässlichkeit
Gesundheitliche Nachteile können mit der ePA nur vermieden werden, wenn die darin enthaltenen Daten vollständig sind. Wenn eine ePA mit Sicherheit nur die Daten von den Behandlungen beinhaltet, die ab dem Zeitpunkt der Ausstellung eingetragen wurden und alles Frühere beliebig ist, haben Ärztinnen und Ärzte keine sichere Entscheidungsgrundlage und die Sicherheit der Patientinnen und Patienten ist nicht gewährleistet, wie weiter oben behauptet.
DerChef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, erinnert im Deutschen Ärzteblatt daran, dass in einem ersten Entwurf des Digitalgesetzes vorgesehen war, dass die Ärzte die ePA von Beginn an mit allen vorhandenen Daten füllen sollten. Doch die Ärzte Lobby hat diese Verpflichtung wegen des damit verbundenen Aufwands abwenden können. Wie oben ersichtlich, war die Lobby der Krankenkassen nicht weniger erfolgreich und hat ihre eigene Verpflichtung zur Dateneingabe über Jahrzehnte strecken können. Aber selbst eine solche Pflicht, die immer mit der Klausel versehen ist "Wenn technisch möglich", würde noch nicht zur Vollständigkeit vieler ePA führen. Meine Akte bei meiner Hausärztin besteht aus einer doppelt gefalteten Karteikarte mit Einträgen in einer nur von ihr lesbaren Handschrift, was sie in 20 Jahren bei mir diagnostiziert und mir verschrieben hat. Diese rund 100 Einträge wird sie nie in elektronische Formulare eintragen, meine ePA würde also meine Krankengeschichte nie vollständig wiedergeben.
Eine Zeitenwende dauert eben
Wie war das mit der der ersten Zeitenwende? Da sollte es rund zehn Jahre dauern bis kontinuierliche Investitionen ihr Ziel erreichen werden. Befürworter bezeichnen die ePA als ein dynamisches Projekt. Das heißt nicht "schnell", wie die Begrenzung auf zehn alte Dokumente in 24 Monaten zeigt. Es sind auch keine Antriebskräfte für Beschleunigungen zu erkennen. Treffender erscheint mir die Bezeichnung "Dauerbaustelle".
Auf den Seiten des Bundesgesundheitsministeriums kann man herausfinden, mit wie wenig der Prozess der Befüllung der ePA beginnt und ahnen, wie lange er dauern wird. Kassen und Verbände und darauf aufbauend auch die Berichterstattung in den Medien sollten sich daran orientieren und keine unhaltbaren Behauptungen übernehmen. Die Krankengeschichte von 80 Millionen Menschen lückenlos geordnet zu dokumentieren, geht einfach nicht rückwirkend. Denkbar ist, dass sich alle Leistungsträger darauf einigen, ab 2026 alle neu anfallenden Daten einzugeben und sich Ärzteverbände und Kassen darauf einigen, wer was für eine verbindliche Frist von zehn Jahren zurückliegend ergänzt. Dann könnte man der heutigen Jugend die jetzt schon behaupteten Vorteile relativ sicher für Mitte der 30er Jahre in Aussicht stellen.
Bis dahin besser nicht vertrauen
Solange es nur lückenhafte ePAs gibt, stellt sich für Ärztinnen und Ärzte die Frage, wie weit sie diesen Daten vertrauen wollen. Das was da ist, dürfte verlässlich sein, aber niemand kann sagen, was noch nicht da ist. Auf einer Baustelle kann man sich nicht so sicher bewegen, wie in einem fertiggestellten Gebäude. Ein Verzicht auf die üblichen Anamnese-Fragebögen zu Vorerkrankungen und eingenommenen Medikament und eine ausführliche Befragung der Patientinnen und Patienten ist daher nicht vertretbar. Wir stehen in der paradoxen Situation, dass die ePA zunächst noch allen mehr Arbeit macht, bevor sie irgendwann Aufwand spart und mehr Sicherheit liefern kann. Aber das muss man durch - und das sollte offen kommuniziert werden.