Digitale Teilhabe 65 plus

Beobachtungen, Gedanken, Fragen und Tipps
zur Überwindung der Alterslücke bei der Nutzung von digitalen Medien

Portrait: Herbert Kubicek
Prof. Dr. Herbert Kubicek
Jahrgang 1946
Über mich
11.11.2022

Das Unmögliche als Voraussetzung - Die Regelung der Erstattung von eUL nach der DiPAV

Ein Textauszug aus dem Leitfaden zur Erstattungsfähigkeit von DiPAs, wonach eine Hilfe bei der Installation einer App nicht erstattungsfähig ist, weil im Lieferumfang eine geeignete Hinführung enthalten sein sollQuelle: Leitfaden für digitale Pflegeanwendungen

Die DiPAV und ein Leitfaden sind da

Am 29. September 2022 ist die "Verordnung zur Prüfung der Erstattungsfähigkeit digitaler Pflegeanwendungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch" (Digitale Pflegeanwendungen-Verordnung – DiPAV) in Kraft getreten. Am 4. November hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einen 150 Seiten umfassenden Leitfaden dazu veröffentlicht. In meinem Beitrag vom 25.7.2022 habe ich die gesetzliche Vorgabe gelobt, nach der nicht nur die Kosten für eine Digitale Pflegeanwendung erstattet werden können, sondern nach §§ 39a und 40a SGB XI auch die Kosten für sogenannte ergänzende Unterstützungsleistungen (eUL). Die im Verordnungsentwurf vorgesehene Regelung der Erstattungsfähigkeit über die Anbieter oder Hersteller habe ich jedoch als praxisfern kritisiert. Die Erläuterungen in dem Leitfaden bestätigen diese Kritik.

Der Fehler liegt schon in der gesetzlichen Vorgabe

Nach einer erneuten Lektüre der gesetzlichen Norm muss ich nun festzustellen, dass der Fehler nicht erst in der Verordnung oder den Ausführungsbestimmungen im Leitfaden gemacht wurde, sondern schon im Gesetzestext:

§ 39a Ergänzende Unterstützung bei Nutzung von digitalen Pflegeanwendungen

Pflegebedürftige haben bei der Nutzung digitaler Pflegeanwendungen im Sinne des § 40a Anspruch auf ergänzende Unterstützungsleistungen, deren Erforderlichkeit das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nach § 78a Absatz 5 Satz 6 festgestellt hat, durch nach diesem Buch zugelassene ambulante Pflegeeinrichtungen.

Die Erforderlichkeit einer Unterstützung einer pflegebedürftigen Person bei der Nutzung einer digitalen Pflegeanwendung soll danach ein zentrales Bundesinstitut feststellen. In der Verordnung gibt das BfArM die Verpflichtung an die Hersteller oder Anbieter als Antragsteller weiter. Sie sollen begründen, warum welche ergänzende Unterstützungsleistung in welchem Umfang erforderlich ist.

Erforderliche Angaben für die Erstattungsfähigkeit

Im Antrag muss vom Hersteller angegeben werden, welche eUL in Kombination mit der DiPA zwingend oder nur fakultativ erforderlich sind.

"Hierzu muss der Hersteller definieren,

  • welche eUL nach der konzeptionellen Gestaltung der DiPA zur Zweckerreichung zwingend erforderlich ist oder
  • zu welchen Aufgaben und Interaktionen pflegebedürftige DiPA-Nutzende in der Lage sein müssten, damit diese keine ergänzenden Unterstützungsleistungen bei der Nutzung der DiPA benötigen.
  • Davon ausgehend kann beschrieben werden, durch welche eUL eine Einschränkung der Nutzenden notwendigerweise ausgeglichen wird, um die DiPA bestimmungsgemäß anwenden und nutzen zu können. Hersteller sollen hierbei eine möglichst umfassende Liste von ggf. notwendigen (plausiblen) eUL bei der Antragstellung mit einbringen, die folgende Aspekte der Leistungen wiedergibt:

  • Anforderungen an die durchführende dritte Person (z. B. Qualifikation),
  • Beschreibung der Erforderlichkeit des Ausführens, der Art und des Inhalts der Tätigkeit,
  • durchschnittlicher Umfang anhand Dauer und Häufigkeit der Tätigkeit (z. B. einmalig, regelmäßig, anlassbezogen oder über einen bestimmten Zeitraum, z. B. die ersten sechs Monate) sowie Aufwand in Minuten,
  • durch die eUL ausgeglichene Einschränkung der pflegebedürftigen Person." (S. 14f.)
  • Der Leitfaden enthält weder eine Liste möglicher eUL noch von auszugleichenden Einschränkungen, die als Begründung für die Erstattungsfähigkeit anerkannt werden. Es gibt nur zwei irritierende Beispiele.

    Der häufigste Fall wird ausgeschlossen

    Das im Titelblatt gezeigte Beispiel zeigt die Praxisferne des Ansatzes: Eine pflegebedürftige Person hat Probleme bei der Installation einer zugelassenen Anwendung und bittet eine Pflegekraft um Unterstützung. Dies wird nicht als eUL anerkannt und etwaige Kosten können nicht erstattet werden, weil sie angeblich nicht erforderlich ist. Denn: "Eine geführte und durch die pflegebedürftige Person umsetzbare Einrichtung der App muss im „Lieferumfang“ enthalten sein."

    Es wird also angenommen, dass alle Pflegebedürftigen einer geführten Anleitung auf einem Smartphone, Tablet oder PC folgen können, die DiPA selbst installieren können. Aber gerade um die Hilfe bei der Installation ging es doch !

    Nach der repräsentativen Umfrage des Statistischen Bundesamtes zur Internetnutzung in privaten Haushalten liegt der Anteil der Nutzenden, die angeben, dass sie Software oder Anwendungen (Apps) installieren können, in der Altersgruppe 16 bis 25 Jahre bei 58,5 Prozent, in der Altersgruppe 65 bis 75 Jahre bei 22 Prozent. Für Pflegebedürftige dürfte eher noch niedriger niedrig liegen.

    Völlig übersehen wird, wie die Pflegebedürftigen an eine empfohlene DiPA kommen und welche Unterstützung sie dabei benötigen. Wahrscheinlich muss eine bestimmte DiPA in einem Store gefunden, von dort heruntergeladen und vorher online bezahlt werden. Das tun (und können) nach der erwähnten Umfrage nur wenige ältere Menschen zwischen 65 und 75 Jahren, unter denen sich die meisten Pflegebedürftigen befinden:

  • 54,5 Prozent haben zwar jemals überhaupt etwas online für den privaten Bedarf eingekauft
  • aber nur 3,9 Prozent haben Software oder apps online gekauft
  • 29,4 Prozent nutzen Internetbanking einschl mobiles Banking
  • Das Gegenbeispiel einer Unterstützung, die als eUL anerkannt wird, irritiert in anderer Hinsicht

    "Bedienung der DiPA bei kognitiven Einschränkungen Beschreibung:

    Die DiPA unterstützt mobilitätseingeschränkte Pflegebedürftige bei der Ausführung von Handlungen, indem sie schrittweise die Einzelhandlungen darlegt. Einige Nutzende sind aufgrund zusätzlich vorhandener kognitiver Einschränkungen nicht allein in der Lage, passende Handlungen auszuwählen und diese auf ihren individuellen Alltag abzustimmen. Der ambulante Pflegedienst unterstützt die pflegebedürftige Person im monatlichen Rhythmus beim Verstehen und der Einstellung der DiPA Inhalte, um deren kognitiven Defizite auszugleichen.

    Begründung:

    Es handelt sich um eine eUL, da konkrete Einschränkungen der pflegebedürftigen Person ausgeglichen werden." (S. 16)

    Das klingt zunächst plausibel. Aber nach dem oben geschilderten Verfahren kommt es dazu nur, wenn der Hersteller in seinem Zulassungsantrag nachgewiesen hat, dass eine Unterstützung bei der Handhabe der App einmal im Monat bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen erforderlich ist. Der Ausgleich kognitiver Einschränkungen ist jedoch nur einer von vielen Gründen für einen Unterstützungsbedarf. Einige Pflegedürftige können nicht gut sehen und die Zeichen und Texte auf einem Smartphone nicht sicher erkennen, bei anderen zittern die Hände oder sind steif, so dass sie den Touchscreen nicht treffsicher bedienen können. Bei manchen reicht das Gedächtnis nicht, um sich das Icon und die Bedienungsschritte merken zu können. Soll ein Hersteller alle möglichen Einschränkungen bei einer souveränen Bedienung von Geräten und Anwendungen vorhersehen und prüfen und wie soll er nachweisen, welche Einschränkungen eine bestimmungsgemäße Nutzung beeinträchtigen?

    In der Bremer Umfrage zur Internetnutzung älterer Menschen wurde zum einen nach der körperlichen und geistigen Verfassung gefragt, zum anderen nach Problemen bei der Nutzung. Dabei haben sich keine deutlichen Korrelationen zwischen einzelnen Einschränkungen und bestimmten Nutzungsschwierigkeiten ergeben. In den Fällen von schlechtem Sehvermögen oder Beweglichkeit der Hände gibt es einige, die keinerlei Nutzungsprobleme haben, und bei denen, die sich in guter Verfassung sehen, hat ein Teil immer wieder Probleme.

    Erforderlichkeit ist hochgradig situationsabhängig

    Es gibt keine fachliche Basis, um generell verbindlich vorherzusagen, aufgrund welcher Einschränkungen welcher konkrete Unterstützungsbedarf wie oft und wie lange zu einer bestimmungsgemäßen und wirksamen Nutzung einer DiGA erforderlich ist. Der konkrete Bedarf und die Erforderlichkeit können nur vor Ort situativ im Einzelfall bestimmt werden.

    Das gilt auch für das zitierte Beispiel. Wer stellt in diesem Fall fest, dass eine kognitive Einschränkung vorliegt, die eine selbständige Nutzung ausschließt und die Unterstützung erforderlich macht ? Vermutlich der Pflegedienst, gegebenenfalls in Absprache mit dem Medizinischen Dienst. Warum dann noch der Umweg über die vorherige Genehmigung einzelner konkreter Unterstützungsleistungen durch das BfArM?

    Eine gute Idee wird im Keim erstickt

    Leider bleibt es nach diesen konkreten Vorgaben bei der skeptischen Einschätzung aus dem Beitrag vom 29. September, dass nach diesen praxisfernen Vorgaben kaum Anträge auf Zulassung von DiPAs ingesamt und eUL im Besonderen gestellt werden und gestellte Anträge wegen ungenügender Nachweise nicht genehmigt werden.

    Wäre ich ein Verschwörungstheoretiker würde ich dahinter Absicht vermuten. So wundere ich mich nur, dass in den vielen Stellungnahmen der Verbände zum Gesetzentwurf niemand auf die praxisferne Verfahrensvorgabe für die Unterstützungsleistungen im Gesetz aufmerksam gemacht hat. Den Fachleuten in den Verbänden müßte dies doch eher aufgefallen sein als mir beim ersten Lesen.

    Weitere Infos: DiPA Leitfaden.pdf

    Ansehen

    02.12.2023
    Am 11 .Oktober 2023 wurde die Version 1.2. veröffentlicht. An den hier kritisierten Regelungen einschließlich der Höchstgrenze für die Erstattung von 50 Euro pro Monat wurde nichts geändert.