Die Lücken liegen woanders
Wieder eine Umfrage ohne Konsequenzen
Unter der Überschrift „Lücken bei Digitaler Kompetenz“ berichtete der Weser Kurier am Wochenende über die Ergebnisse einer neuen Umfrage, die BITKOM Research im Auftrag der Initiative „Digital für alle" durchgeführt hat. Auf der Web-Seite werden die Ergebnisse wie folgt zusammengefasst
Von den befragten 1.002 Personen in Deutschland ab 16 Jahren bringen sich die meisten digitale Kompetenzen bei, „indem sie Neues eigenständig ausprobieren und aus Fehlern lernen (71 Prozent). Fast genauso viele lassen sich vom Freundeskreis, Bekannten oder Familienmitgliedern etwas beibringen (68 Prozent). Seminare und Schulungen zur Stärkung digitaler Kompetenzen besuchen 35 Prozent, 16 Prozent lesen Fachmedien oder Blogbeiträge.“
Fast alle Jüngeren lernen mit Videos im Internet, Podcasts und Chat-Gruppen. In der Altersgruppe ab 65 Jahren lernen nur 32% mithilfe von Internetvideos, 9% hören Podcasts und 8% nutzen Apps. Fast die Hälfte (46%) lassen sich Digitales von der Familie oder Bekannten beibringen.
Bekannte Befunde
Diese Befunde sind nicht neu. Die Bertelsmann-Stiftung und seit vielen Jahren der Digital-Index der Initiative D21 haben ähnliche Ergebnisse veröffentlicht. Nach der Bremer Umfrage mit 9.525 antwortenden Onlinern haben die meisten von Verwandten (43%) oder Bekannten und Nachbarn (19%) gelernt, 31% alleine, nur 12% in einem Internet, Tablet- oder Smartphone-Kurs, und die wenigsten (1%) in einem informellen Format wie einem WLAN-Cafe oder einer Tabletgruppe. Nach der Sonderauswertung des Digital-Index zur Lücke bei den digitalen Kompetenzen (Digital Skill Gap Studie) erwerben ältere Onliner zwar Basiskompetenzen, wie die Nutzung von WhatsApp und Google, haben aber kaum Problemlösungskompetenzen, um sich bei auftretenden Problemen selbst zu helfen. Sie sind überwiegend auch nicht in der Lage, darauf aufbauend neue komplexere Anwendungen zu erlernen, die ihnen erst eine Digitale Teilhabe ermöglichen.
Falsche Schussfolgerungen
Es mutet schon seltsam an, wenn als Reaktion auf die Erkenntnis, dass sich nur ein Drittel der Älteren im Internet informiert, die Initiative Digital für alle als Reaktion darauf eine Sammlung von Angeboten zur Stärkung digitaler Kompetenzen im Internet veröffentlicht.Es gibt Lücken bei den digitalen Kompetenzen älterer Menschen. Doch dies liegt vor allem an Lücken bei den Unterstützungsangeboten. In Wissenschaft und Politik überwiegt nach wie vor der Glaube, Erfahrungsorte seien der Königsweg zum Erwerb digitaler Kompetenzen und zur Ermöglichung Digitaler Teilhabe älterer Menschen. Mit Vorführungen, Übungsgruppen und dem Training einfacher Anwendungen in Begegnungsstätten, Seniorentreffs und ähnlichen Einrichtungen von Kommunen und Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Vereinen versuchen überwiegend Freiwillige und Ehrenamtliche unerfahrenen und unsicheren älteren Menschen Ängste zu nehmen und positive Erfahrungen mit einfachen Anwendungen zu ermöglichen. Auf sie konzentrieren sich die staatlichen Fördermaßnahmen von Bund und Ländern, oft kleinzahlig und befristet. Dieses Engagement kann nicht hoch genug geschätzt und gewürdigt werden. Aber für die Befähigung der meisten älteren Menschen zu Digitaler Teilhabe reicht es alleine nicht.
Solche Erfahrungsorte werden nur von 10 bis 20% der älteren Bevölkerung aufgesucht und ihre Wirksamkeit ist begrenzt. Bei der Evaluation der 150 Erfahrungsorte, die im Rahmen des DigitalPakt Alter gefördert wurden, räumen zwischen 20% und 50% der Teilnehmenden immer noch Probleme ein und nur knapp 10% stimmen zu, dass sie alles gelernt haben, was sie wollten, und keinen weiteren Bedarf haben. Rund die Hälfte benötigt Unterstützung bei neuen Themen oder gelegentlich Hilfe durch eine persönliche oder telefonische Sprechstunde, ein Drittel sogar regelmäßig. Ähnliche Ergebnisse hat die größere Bremer Umfrage ergeben. Danach wünschen sich 47% der rund 9.000 befragten älteren Onliner Hilfe bei Problemen mit ihren Geräten oder einzelnen Anwendungen in Form von Hausbesuchen, 30% über eine telefonische Hotline und 23% in Sprechstunden.
Digitalambulanzen sind mehr als Erfahrungsorte
In der Koalitionsvereinbarung 2019 hatte der damalige Bremer Senat ein Programm angekündigt, das neben alters- und situationsgerechten Erfahrungsangeboten "für die immer wieder auftretenden Probleme bei der Nutzung ´digitale Ambulanzen´ schafft, die aufgesucht oder angerufen werden können". Das ist die genau die passende Antwort auf die zitierten Umfrageergebnisse. Zu anrufbaren Digitalambulanzen ist es in der letzten Legislaturperiode in dem aus Bundesmitteln bis Ende 2022 geförderten Projekt Netzwerk Digitalambulanzen leider nicht gekommen. In der aktuellen Koalitionsvereinbarung kommt das Wort Digitale Teilhabe oder gar Digitalambulanzen gar nicht mehr vor.Es geht um eine Assistenzinfrastruktur und eine digitale Transformation der gesamten Altenarbeit
Es muss endlich eine breite Fachdiskussion über weitere Unterstützungsformate folgen. In zwei früheren Beiträgen habe ich auf das niederländische Beispiel einer digitalen Pannenhilfe durch eine Club-Mitgliedschaft hingewiesen. Der einzige Kommentar, den ich dazu erhalten habe, hält dieses Modell für auf Deutschland nicht übertragbar.Bei den Fachleuten in der Praxis der Altenarbeit und in der Seniorenpolitik erscheint die Erkenntnis nicht durchzudringen, dass es angesichts der gerade wieder beschlossenen Beschleunigung der Digitalisierung nicht um ein Bildungsproblem geht, das man mit ein paar Hundert Einstiegsangeboten lösen kann, sondern um den Aufbau einer flächendeckenden Assistenzinfrastruktur, wie sie die BertelsmannStiftung fordert. Diese ist als Teil der Daseinsvorsorge zu begreifen und muss nach Auffassung der Kommission für den Achten Altersbericht durch Diversifizierung und Professionalisierung passender Angebote für 22 Mio. ältere Menschen von 60 bis weit über 90 Jahren mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten durch Innovation und Transformation aller Einrichtungen in der Altenhilfe und durch Support-Angebote aller Anbieter von Online-Angeboten gefördert und koordiniert werden.
Wer erste positive Erfahrungen fördert, sollte auch sagen, wie es danach weitergeht und für entsprechende Angebote sorgen. Erfahrungsorte können nur einen First-Level-Support leisten und nicht bei Problemen mit allen noch zunehmenden Anwendungen der digitalisierten Verwaltung, Gesundheitsversorgung und Pflege helfen. Ob Grundsteuererklärung, Bürgerkonto, E-Rezept oder Patientenakte, ältere Menschen brauchen Unterstützung und diese sollte durch einen Second Level Support der jeweiligen Anbieter erfolgen. BITKOM hatte bereits 2021 in einer ähnlichen Umfrage festgestellt, dass sich 53% der Befragten in allen Altersgruppen mehr Hilfestellung von Begleitpersonen wünschen, um am digitalen Leben teilnehmen zu können, und empfohlen, Mitarbeitende der Verwaltung sollten zu Digital Streetworker umgeschult und eingesetzt werden.
Wie auch immer man die persönliche Unterstützung bei Schwierigkeiten in der digitalen Welt bezeichnet, sie flächendeckend zu schaffen, ist nicht nur ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, sondern auch eine Erfolgsbedingung für die geplanten Digitalisierungsprojekte. Die folgende Abbildung soll dies verdeutlichen. Was im Einzelnen gemeint ist, beschreibe ich in der nächsten Folge.
Eine Präsentation mit Handlungsempfehlungen von Rebecca Weiss, BITKOM, gibt es auf der Seite zu einer Veranstaltung am 30.10.2023 im Düsseldorfer Landtag.