Digitale Teilhabe 65 plus

Beobachtungen, Gedanken, Fragen und Tipps
zur Überwindung der Alterslücke bei der Nutzung von digitalen Medien

Portrait: Herbert Kubicek
Prof. Dr. Herbert Kubicek
Jahrgang 1946
Über mich
Thema heute:

Ein „ADAC"* für Digitale Teilhabe Teil 2: Das Beispiel SeniorWeb - Think Big - Act Local

Quelle: https://www.seniorweb.nl/pchulp

"Was bisher (nicht) geschah"

Im ersten Teil habe ich von den Schwierigkeiten berichtet, auf lokaler Ebene die dringend benötigten Unterstützungsinfrastrukturen für die Digitale Teilhabe älterer Menschen dauerhaft zu errichten. Die in mehreren mit Drittmitteln geschaffenen Institutionen sind nach dem Auslaufen der Förderung von den beteiligten Kommunen nicht in Regelaufgaben überführt worden, wie dies für eine bedarfsgerechte Altenhilfe notwendig ist. In einigen Bundesländern gibt es auf Landesebene Initiativen zur Qualifizierung und Unterstützung ehrenamtlicher Digitalbotschafterinnen und - botschafter oder Unterstützungskräfte mit anderen Bezeichnungen. Sie sind jedoch nur lose mit den Einsatzorten verbunden, in denen diese eingesetzt werden. In Österreich erstellt das Österreichische Institut für Angewandte Telekommunikation (ÖIAT) hochwertige Materialien zum Thema Digitalisierung und Alter für alle in der Erwachsenenbildung tätigen Personen und bietet Schulungen an. Auf dem erwähnten Expertentreffen hat Edith Simöl, die dort in der Servicestelle arbeitet, bedauert sie, dass mit diesem Ansatz alleine keine nachhaltige Digitale Teilhabe erreicht wird, weil nach der Teilnahme an einem Kurs oder einer Übungsgruppe immer wieder Probleme auftreten, die selbst nicht gelöst werden können und keine Hilfe in Sicht ist. Für diese häufigen Fälle wünsche sie sich so etwas wie einen Automobilclub, der dann unmittelbar Hilfe leistet. Nach meinen eigenen Erfahrungen mit älteren Menschen in Pilotprojekten mit zunächst geliehenen Tablets hält das Fehlen einer solchen digitalen Pannenhilfe ältere Menschen mit geringem Selbstvertrauen davon, überhaupt in einen Internetzugang zu investieren. Ich habe bisher bildlich von einem Rettungsboot gesprochen, ohne dass viele Ältere zögern, online zu gehen. Die Pannenhilfe ist ein viel besseres Bild.

SeniorWeb - Ein erfolgreiches Beispiel für das Club-Modell

In dem auf Frau Simöl folgenden Beitrag hat Elisabeth Weinberger berichtet, dass dieser Traum in den Niederlanden mit SeniorWeb schon lange Wirklichkeit ist. SeniorWeb ist nach eigenen Angaben auf der Homepage ein nationaler Verein mit 150.000 Mitgliedern, 450 Lernzentren und 2.800 Freiwilligen und 39 Mitarbeitenden in einem Landesbüro. Der Verein verfolgt seit 1996 das Ziel, älteren Menschen die digitale Welt verständlich zu machen, damit jede und jeder den Komfort und die Freude an Computer und Internet erleben kann.

Die Lernzentren sind selbständige Einrichtungen von Non-Profit-Organisationen wie Bibliotheken, Gemeindezentren oder Treffpunkte von Wohlfahrtsverbänden, wo Seniorinnen und Seniorinnen von den ebenfalls älteren Freiwilligen lernen und bedarfsgerecht unterstützt werden. Die Freiwilligen werden zentral qualifiziert und den Einrichtungen vermittelt, die individuell über die Art des Einsatzes und die Vergütung entscheiden.

Neben diesen Lernorten wird eine persönliche Computerhilfe durch Freiwillige von PCHulp und Learning at Home angeboten, über das Internet, per Telefon oder zu Hause. „In den letzten Jahren haben SeniorWeb-Freiwillige nicht weniger als 500.000 PCHelp-Anfragen von Senioren zufriedenstellend bearbeitet“ wird berichtet.

Wie bei einem Automobilclub wird man Mitglied bei SeniorWeb und erhält

  • unbegrenzte Online-Helpdesk-Hilfe,
  • telefonische Computerhilfe und auch zu Hause,
  • 4 x jährlich die Computerzeitschrift Enter,
  • wöchentlich informative Newsletter,
  • Online-Kurse zu beliebten Themen,
  • Expertenkontrolle verdächtiger E-Mails,
  • erschwingliche Computerbücher und Zubehör.
  • Die SeniorWeb-Mitgliedschaft kostet für das gesamte Kalenderjahr 38 €. Bei der Nutzung mehrerer PCHulp-Dienste kommt eine zusätzliche (Freiwilligen-) Gebühr hinzu:

  • Für die Online-Hilfe fallen keine zusätzlichen Kosten an.
  • PCHelp per Telefon Montag bis Freitag von 9:00 bis 12:00 Uhr und 13:00 bis 16 Uhr kostet 0,20 € pro Minute.
  • Wenn ein Freiwilliger nach Hause kommt, ist eine Aufwandsentschädigung von 5,00 € pro Stunde plus Fahrtkosten in Höhe von 0,21 € pro Kilometer (Pkw) und nachweisbaren Maut- oder Parkgebühren oder die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel (2. Klasse) direkt zu zahlen.
  • SeniorWeb hat Mitglieder, die schon viele Jahre ihren Beitrag zahlen und immer noch Leistungen in Anspruch nehmen. Das zeigt, dass diese Art von Unterstützung angesichts des schnellen technischen Wandels und ständiger Erweiterung der Anwendungen eine Daueraufgabe ist und daher auch eine auf Dauer angelegte Struktur benötigt, die sich inhaltlich laufend weiterentwickeln muss. Dies erfordert einen entsprechenden Personalaufwand im zentralen Landesbüro. Dort sind für die verschiedenen Leistungen insgesamt 39 Personen beschäftigt. Das Beispiel zeigt, dass sich das Club-Modell mit jährlichen Einnahmen von rund 6 Millionen Euro sogar ohne staatliche Zuschüsse wirtschaftlich trägt.

    Es kommt auf die Größe an

    Als Geschäftsmodell entspricht das SeniorWeb grundsätzlich dem Modell der Bremer Dienstleistungszentren: Mitglieder bzw. Kundinnen und Kunden zahlen einen festen monatlichen Grundbeitrag, erhalten bestimmte Grundleistungen und zusätzliche Leistungen werden je nach Art und Umfang der Inanspruchnahme individuell an die Leistungserbringer bezahlt. Grundleistungen im SeniorWeb sind die Onlinehilfe, der Newsletter und Materialien zum Download.

    Wenn man fragt, wie SeniorWeb diese Leistungen zu einem Jahresbeitrag von 38 Euro - monatlich nur etwas mehr als drei Euro - erbringen kann, ist die Antwort für Ökonomen klar: Büchers Gesetz der Massenproduktion. Mit zunehmender Stückzahl sinken die Fixkosten und damit auch die gesamten Stückkosten. Die Herstellungs- und Bereitstellungskosten sind weitgehend gleich, wenn an einem Webinar fünf oder 15 Personen teilnehmen oder eine Broschüre 100 mal oder 1.000 mal als pdf heruntergeladen wird. Bei der telefonischen Hotline und den Haubesuchen überwiegen zwar die variablen Kosten. Daher erfolgt hier eine leistungsabhängige Vergütung. Größeneffekte gibt es aber auch hier bei Werbung und Qualifizierung von Ehrenamtlichen.

    Think big – Act local

    Für mich ist dieses Beispiel Anlass, die bisherige Fokussierung auf kommunale Unterstützungsinfrastrukturen im Rahmen der gesetzlichen Altenhilfe zu überdenken. Für die Stadt Bremen mit rund 150.000 Menschen über 60 Jahre wären für einem vergleichbaren Leistungsumfang mindestens vier halbe Stellen und Honorarkräfte erforderlich. Bei rund 200.000 Euro Kosten pro Jahr würde bei einem gleich hohen Jahresbeitrag eine Deckung erst bei ca. 5.260 Mitgliedern erreicht. Dies ist kurz und mittelfristig nicht sehr wahrscheinlich. Würde man hingegen eine gemeinsame Organisation für Bremen und Niedersachsen schaffen, würde die Zielgruppe auf 2,6 Mio. ältere Menschen ansteigen, aber man braucht nicht das siebzehnfache Personal. Wenn Hamburg noch hinzukäme, wären es rund drei Millionen und man käme wahrscheinlich mit acht Stellen und Honorarkräften aus.

    Entscheidend ist dabei die verbindliche Arbeitsteilung, Koordination und Kooperation zwischen den zentral und den lokal erbrachten Leistungen und zwischen der Zentrale und den lokalen Lernzentren. Weil die Bevölkerung der Niederlande in etwa der von Nord-Rhein-Westfalen entspricht und einige Bundesländer schon zentrale Einrichtungen fördern, erscheint ein Verbund aus mehreren Bundesländern realistischer und effektiver als eine Organisation für das gesamte Bundesgebiet.

    Zum Beispiel wirbt, qualifiziert und unterstützt in Rheinland-Pfalz die Stiftung MedienKompetenz Forum Südwest (MKFS) ehrenamtliche Digitalbotschafterinnen und - botschafter und erstellt zentral qualitativ hochwertige Materialien. Sie hat Kontakt zu lokalen PC- und Internettreffs und anderen Lernorten, jedoch keine feste Kooperation und vermittelt die DigiBos nicht an diese wie dies SeniorWeb tut. Sie werden quasi wie Selbständige auf einer Karte gelistet, so dass lokale Einrichtungen selbst Kontakt aufnehmen können Die Schulungskapazitäten werden durch die staatliche Förderung begrenzt und bleiben hinter dem Bedarf zurück. Mit einem Club-Modell könnten zusätzliche Ressourcen für die Erweiterung der Kapazitäten gewonnen werden. In Baden-Württemberg haben sich Senioren-Internet-Initiativen zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, das gemeinsame Schulungen organisiert. Wenn beide Länder ähnlich wie beim Rundfunk auch auf diesem Gebiet kooperieren und den Top-Down und den Bottom-Up-Ansatz zu einem gemeinsamen Club-Modell zusammenführen würden, könnte die kritische Masse erreicht und die Reichweite und damit die Befähigung älterer Menschen zu Digitaler Teilhabe deutlich erhöht werden.

    Zwei notwendige Ergänzungen

    Bei kostenpflichtigen Angeboten ist stets die Kostentragfähigkeit für die Mitglieder der Zielgruppe zu prüfen. In Anbetracht von Altersarmut kann sich ein Teil der älteren Bevölkerung schon die monatlichen Kosten für einen schnellen Internetanschluss nicht leisten und daher auch keinen zusätzlichen Mitgliedsbeitrag für digitale Pannenhilfe. Daher müssten diese Mitgliedsbeiträge als Sachleistungen in der Grundsicherung im Alter und bei Pflegeleistungen anerkannt und erstattet werden. Zum anderen gilt auch hier, was in der Evaluation der 150 Erfahrungsorte im Rahmen des DigitalPakt Alter festgestellt wurde: Digitale Anwendungen in den Bereichen Smart Home und Gesundheits- und Pflegeanwendungen, die älteren Menschen ein längeres Leben in der eigenen Häuslichkeit erlauben, können auch im Rahmen einer solchen Organisation von Ehrenamtlichen nicht in der erforderlichen Fachlichkeit geleistet werden. Dazu sind Einrichtungen der Wohnberatung, Pflegestützpunkte, Pflegedienste und andere bereits in der analogen Beratung und Unterstützung tätige Stellen zu qualifizieren und in einen Austausch einzubeziehen.

    Doch nur ein Traum ?

    Die Kommission für den Achten Altersbericht empfiehlt für eine umfassende digitale Teilhabe älterer Menschen mehr Diversifizierung, Professionalisierung und entsprechende Vernetzung. Dies erfordert Koordination auf und zwischen der Landesebene und der kommunalen Ebene. Wenn man sich dies nach den vorangegangenen Ausführungen konkret vorstellt, mag man Frau Simöl zustimmen, dass es sich um einen schönen Traum handelt, dessen Verwirklichung weit weg ist. Man kann SeniorWeb nicht einfach in Deutschland oder Österreich nachbauen. Das Netzwerk hat eine fast dreißigjährige Entwicklung durchlaufen. Aber wenn Politik ernsthaft eine soziale Exklusion des zunehmenden Anteils älterer Menschen unter den Bedingungen der zunehmenden Digitalisierung vermeiden oder auch nur abmildern will, muss die verstreute Mikroförderung in die Schaffung von Strukturen überführt werden, die sowohl den unterstützenden Einrichtungen vor Ort quantitativ und qualitativ hochwertige passende Angebote ermöglichen, als auch den älteren Menschen das Auffinden geeigneter Unterstützungsmöglichkeiten über eine zentrale Anlaufstelle erlauben.

    Ich denke immer wieder an die Antwort einer älteren Dame, die ich im Rahmen des Projekts Digital mobil im Alter von Telefonica und der Stiftung Digitale Chancen nach acht Wochen mit einem geliehenen Tablet und Betreuung in einer Wohneinrichtung gefragt habe, ob sie sich nun ein eigenes Tablet anschaffen werde:

    „ Ich würde das gerne tun. Aber ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll, wenn ich ein Problem habe. Und ich werde bestimmt immer wieder irgendein Problem haben.“**

    Hätte es eine digitale Pannenhilfe für ihre Region gegeben, wäre die Entscheidung eventuell anders ausgefallen. Dasselbe gilt für die Millionen ältere Menschen, die zwar WhatsApp nutzen und googeln können, sich aber an die höher schwelligen Anwendungen nicht herantrauen, die ihnen erst soziale Teilhabe in einer digitalisieren Welt ermöglichen. Es lohnt sich also, an der Verwirklichung dieses Traums zu arbeiten.

    * Allgemeiner Digital-Assistenz-Club

    ** Kubicek, Herbert und Lippa, Barbara (2017): Nutzung und Nutzen des Internets im Alter. Empirische Befunde zur Alterslücke und Empfehlungen für eine responsive Digitalisierungspolitik. Leipzig: Vistas, S.158.

    Präsentation SeniorWeb als pdf