Digitale Teilhabe 65 plus

Beobachtungen, Gedanken, Fragen und Tipps
zur Überwindung der Alterslücke bei der Nutzung von digitalen Medien

Portrait: Herbert Kubicek
Prof. Dr. Herbert Kubicek
Jahrgang 1946
Über mich
Thema heute:

Digital-Notstand in einer Branche im Notstand - Puzzlesteine für ein Lagebild der Digitalisierung in der Pflege und Heimen

Heute ist der Digitaltag 2022. In dieser Woche hat das Verbändebündnis Digitalisierung in der Pflege Bundesgesundheitsminister Lauterbach „erste Überlegungen für einen Nationalen Strategieplan für die Digitalisierung der Pflege" übergeben. Darin werden die entsprechenden Punkte aus dem Koalitionsvertrag zitiert, fünf strategische Ziele genannt und zur Umsetzung ein Nationales Kompetenzzentrum Digitale Pflege gefordert. Es soll auf der Basis von Analysen und regelmäßigen Assessments operative Maßnahmen planen und umsetzen. Ich möchte bezweifeln, ob ein solcher zentraler Ansatz wirklich etwas in der ganzen Breite und Vielfalt der Pflegelandschaft bewirken kann.

Der Pflegebereich ist sehr viel komplexer als das Schulsystem oder die Kommunalverwaltung. Vor allem aber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse über den Digitalisierungsstand. Bisher liegen nur einige Mosaiksteine vor. Und über die Gründe gibt es nur Vermutungen. An der Gesetzgebung liegt es nicht in erster Linie. Mit dem Digitale-Versorgunggesetz, dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz und dem Digitale Versorgung und Pflege-Modernisierungsgesetz sind gute Rahmenbedingungen geschaffen worden. Vieles wird auf Länderebene reguliert und entscheidend sind letztlich die Organisationen vor Ort. Es muss eine Transformation mehrerer Branche unterstützt werden, die sich selbst im Notstand befinden. Aber die vielfältigen Akteure haben unterschiedliche Vorstellungen, was in welche Richtung wie transformiert werden soll. Um wenigstens die aktuelle Lage einschätzen zu können, sollen im Folgenden Daten aus verschiedenen Quellen als Puzzle-Teile zusammengestellt werden.

Pflegebedürftige und andere Personen

Die wenigen lückenhaften Umfragen mit überwiegend geringen Rücklaufquoten beziehen sich entweder auf die Pflegebedürftigen oder auf die Einrichtungen und treffen dabei sehr unterschiedliche Eingrenzungen und Unterscheidungen.

Daten mit der größten Repräsentativität auf der Ebene der Personen liefert die vor zwei Wochen vom BMAS veröffentlichte Repräsentativbefragung zu Menschen mit Behinderungen. Darin wurden in einem mehrstufigen Auswahlprozess über Gemeinden und Einrichtungen vor allem Menschen mit Behinderungen erfasst, aber zum Vergleich auch solche in Wohn- und Pflegeheimen.

Das Ergebnis: Bewohnerinnen und Bewohner von

Nach Altersgruppen unterschieden sind unter denjenigen, die 65 Jahre und älter sind, 87 Prozent ohne Internetzugang (S. 114f.).

Förderung bekannt - aber stößt nicht auf fruchtbaren Boden

Das Bundesgesundheitsministerium hat 2019 eine Umfrage zum Stand der Digitalisierung in Pflegereinrichtungen (pdf) in Auftrag gegeben, um anschließend die Wirkungen der Fördermöglichkeiten nach dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes (PpSG) ermitteln zu können. 951 Einrichtungen von insgesamt rund 30.000 stationären Einrichtungen und ambulanten Diensten haben geantwortet. Als Ergebnis wird festgehalten:

Nur ein leichter Corona-Schub

Eine breitere Öffentlichkeit wurde erst zu Beginn der Corona-Pandemie auf die Lücken bei der Digitalisierung in der Pflege aufmerksam. Eine Bremer Forschungsgruppe hat dies zum Anlass genommen, bei ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen nach der Verfügbarkeit und Nutzung digitaler Kommunikationsmöglichkeiten zu fragen. Befragt wurden die Leitungen von 824 Heimen und 701 Pflegediensten, die nur 10 bzw. 7 Prozent der angeschriebenen Stellen repräsentieren. Gefragt wurde nach der Nutzung digitaler Kommunikation mit Angehörigen, externen Dienstleistern, dem Personal und mit den Pflegebedürftigen. Während E-Mail in beiden Bereichen durchschnittlich zu zwei Dritteln für die Kommunikation mit anderen Stellen genutzt wird, gibt es bei Messengerdiensten und Videokonferenzen größere Unterschiede. So nutzen zwar 40 Prozent der stationären Einrichtungen Videokonferenzen mit Angehörigen und aber nur 5 fünf Prozent der ambulanten Dienste. Bei der Kommunikation mit den Pflegebedürftigen sind es 25 gegenüber nur drei Prozent bei den ambulanten Diensten, obwohl hier gerade unter Pandemie-Bedingungen ein deutlicher Nutzen für beide Seiten erzielt werden kann.

In dieser Umfrage wurde auch nach der Betroffenheit durch Corona-Infektionen in den Einrichtungen gefragt, und ob dies Einfluss auf die Schaffung von digitalen Kommunikationsmöglichkeiten hatte. Ein solcher Einfluss wird vor allem bei den Videokonferenzen deutlich: 16 Prozent der nicht betroffenen Einrichtungen und 24 Prozent der betroffenen haben Videokonferenz-Technik neu eingeführt. Aber 74 bzw. 63 Prozent setzen auch nachher noch keine VK nicht ein. So genannte Telecare-Technologien, wie z.B. Videokonferenzen mit Ärzten, wurden nur von rund drei Prozent aller Einrichtungen genannt. Bemerkenswert zum Digitalisierungsstand insgesamt ist, dass 15 Prozent der Einrichtungen noch nicht einmal E-Mail nutzen. Zu den Gründen gab es keine vorgegebenen Fragen, sondern nur ein Freitextfeld. Daraus leiten die Autorinnen und Autoren folgende Hindernisse ab:

Gefordert werden Interdisziplinäre, unabhängige Kompetenzzentren, die Pflegeeinrichtungen im Auswahl-, Einführungs- und Anwendungsprozess von digitalen Technologien begleiten. Wohlgemerkt ist hier im Gegensatz zu der eingangs zitierten Forderung der Verbände von Kompetenzzentren (Plural) die Rede.

Unterschiede zwischen stationärem und ambulanten Bereich

Aus strategischer Sicht sollte der Vergleich stationärer und ambulanter Pflege fortgeführt und ausgeweitet werden. Die geringen Rücklaufquoten in der Bremer Umfrage liefern für eine konkrete Bedarfsermittlung noch keine valide Basis. Die festgestellten Unterschiede sind jedoch von enormer Bedeutung:

Ein Index aus der Schweiz als Anregung

Das Zentrum für Gerontologie an der Universität Zürich hat schon mehrere Studien zur Nutzung des Internet von älteren Menschen und darunter auch Menschen in Wohn- und Pflegeeinrichtungen durchgeführt. 2019 wurde im Auftrag von CURAVIVA Schweiz, dem Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, eine Umfrage zum Themenbereich „digitale Transformation“ bei den und 15.000 Mitgliedern des Verbands durchgeführt. Mit einer Rücklaufquote von 31,7 Prozent kann sich die Auswertung auf 466 Institutionen stützen. Für die Frage nach den genutzten digitalen Technologien wurden Listen für acht Bereiche vorgegeben, von der Administration und dem Berichtswesen über Sicherheit bis zu Betreuung und Pflege sowie Unterhaltung und Aktivierung. Um die Unterschiede greifbar zu machen, wurde aus diesen vielen Items ein Index des Digitalisierungsgrades konstruiert. Die mathematische Formel kann noch verbessert werden. Aber die Idee eines solchen Index für die Vergleichbarkeit der verschiedenen Einrichtungen sollte auch in Deutschland aufgegriffen und umgesetzt werden. Vielleicht bietet der Digital-Index der Initiative D21 konkrete Anhaltspunkte, der neben Zugang und Nutzung auch Kompetenzen und Offenheit berücksichtigt.

Zur Bedeutung des Faktors Offenheit stützt die Schweizer Studie statistisch die Vermutungen aus den deutschen Umfragen:

“Die befragten Personen sehen in der Anwendung technischer Hilfsmittel eher Vor- als Nachteile. Die größten Hindernisse, die bei der Einführung neuer Technik wahrgenommen werden, sind die damit verbundenen Kosten, fehlende Mitarbeiterkompetenzen und eine nichtvorhandene Infrastruktur.
Die multivariate Analyse zeigt, dass der Digitalisierungsgrad in einer Einrichtung nicht nur von deren Größe abhängt, sondern auch von der Technikaffinität der leitenden Mitarbeitenden.