Digitale Teilhabe 65 plus

Beobachtungen, Gedanken, Fragen und Tipps
zur Überwindung der Alterslücke bei der Nutzung von digitalen Medien

Portrait: Herbert Kubicek
Prof. Dr. Herbert Kubicek
Jahrgang 1946
Über mich
25.07.2022

Digitale Pflegehilfsmittel: Die VDiPA kommt im Herbst - Kommen dann auch die DiPA?

Übersicht mit vielen farblich unterschiedlichen Angaben zu Digitalen Pfleganwendungen die die Komplexität des Thema verdeutlichen sollQuelle: https://pflege-dschungel.de/dipa-digitale-pflegeanwendungen/

Der gesetzliche Rahmen für die DiPA

Schon länger gibt es digitale Pflegeprodukte und Anwendungen auf dem Markt, von Gesundheitstrackern und Gedächtnisspielen über Apps zur Sturzprävention und Reha-Web-Seiten bis zu Pflegerobotern und intelligenten Pflegebetten. Die Kommission für den Achten Altersbericht sieht darin ein großes Potential für Verbesserungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen und auch für eine Entlastung des Pflegepersonals. Die Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen sind noch zögerlich. Es gibt begründete Zweifel am pflegerischen Nutzen, ethische Bedenken und ganz praktisch ungeklärte Kostenfragen und Qualifizierungsbedarfe.

Mit dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) wurde ein Rahmen für die Zulassung von Digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) und für die Kostenübernahme durch die soziale Pflegeversicherung geschaffen. Die DiPA werden in § 40a SGB XI definiert. Neben der Erstattung der Kosten für die Anwendungen ist in § 39a SGB XI erstmals unter bestimmten Bedingungen auch ein Leistungsanspruch auf Unterstützung beim Einsatz digitaler Pflegeanwendungen verankert. In § 40 b wird dieser auf 50 Euro pro Monat insgesamt begrenzt:

"§ 40b Leistungsanspruch beim Einsatz digitaler Pflegeanwendungen : Bewilligt die Pflegekasse die Versorgung mit einer digitalen Pflegeanwendung, hat die pflegebedürftige Person Anspruch auf die Erstattung von Aufwendungen für digitale Pflegeanwendungen nach § 40a so-wie auf Leistungen für die Inanspruchnahme von ergänzenden Unterstützungsleistungen ambulanter Pflegeeinrichtungen nach § 39a bis zur Höhe von insgesamt 50 Euro im Monat."

Einzelheiten soll eine Verordnung regeln, für die im Mai dieses Jahres ein Referentenentwurf vorgelegt wurde, zu der gerade die Stellungnahmen der Verbände veröffentlicht wurden.Die "Verordnung über das Verfahren und die Anforderungen zur Prüfung der Erstattungsfähigkeit digitaler Pflegeanwendungen in der Sozialen Pflegeversicherung (VDiPA)" wendet sich vor allem an die Hersteller und Anbieter von DiPA. Es geht um Antragsberechtigung und Antragsinhalte, Anforderungen an Sicherheit und Funktionstauglichkeit und den Nachweis des pflegerischen Nutzens sowie um das Verzeichnis der zugelassenen DiPA.

„Der pflegerische Nutzen für die pflegebedürftige Person muss in mindestens einem der folgenden gegeben sein: Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen, Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Er kann auch im Bereich der Haushaltsführung gegeben sein.

Erstattungsfähigkeit von Unterstützungsleistungen

Die erwähnte Regelung in § 39 und 40b SGB XI zum Unterstützungsbedarf ist dringend geboten und uneingeschränkt zu befürworten, da viele Pflegebedürftige Offliner oder Minimal-Onliner sind. Die Verordnung hat allerdings einen speziellen Blick auf diesen Bedarf und sieht vor allem die Hersteller und Anbieter in der Pflicht. In § 6 Abs. 5 heißt es::

„Digitale Pflegeanwendungen sind so zu gestalten, dass sie einer altersgerechten Nutzbarkeit Rechnung tragen. Dabei müssen die Pflegebedürftigen und Nutzer die digitale Pflegeanwendung leicht und intuitiv bedienen können. Für digitale Pflegeanwendungen müssen durch den Hersteller … für den Zeitraum der Erstattungsfähigkeit der digitalen Pflegeanwendung … Maßnahmen zur Unterstützung der Pflegebedürftigen und sonstigen in die Versorgung mit digitalen Pflegeanwendungen einbezogenen Dritten, vorgesehen werden.“

Und weiter in Abs. 7

„Ist es nach der Zweckbestimmung der digitalen Pflegeanwendung erforderlich, dass Dritte in die Nutzung der digitalen Pflegeanwendung einbezogen werden und ihnen insofern eine Rolle und Aufgabe zugesprochen wird, ohne die der pflegerische Nutzen nicht erreicht werden kann, gewährleistet die digitale Pflegeanwendung, dass die einbezogenen Dritten in geeigneter Weise informiert, geschult, eingewiesen und regelhaft unterstützt werden, das Einverständnis der Pflegebedürftigen vorausgesetzt.“

Anbieter-Support reicht nicht

Wie soll eine Anwendung Information und Schulung gewährleisten? Gemeint ist wohl der Hersteller oder Anbieter. In anderen Anwendungsbereichen nennt man dies Support, der in Form von Informationsmaterial, Lernvideos und einer Hotline geleistet wird.

Ich hatte von der Vorgabe im Gesetz erwartet, dass ungeübte Pflegebedürftige und Angehörige zusätzlich zu den Kosten der DiPA auch anfallende Kosten für erforderliche Unterstützungsleistungen bei der Nutzung der Anwendung durch einen Pflegedienst oder im Rahmen aufsuchender Digitalassistenz bis zu der Deckelung von 50 Euro abrechnen können. Die meisten Pflegebedürftigen sind über 70 Jahre. In diesen Altersgruppen war mehr als die Hälfte noch nie im Internet, telefoniert mit ihrem Smartphone nur oder nutzt eventuell noch WhatsApp. Und von daher hat die Mehrheit nicht die Bedienungs- und Anwendungskenntnisse und Fertigkeiten für die Benutzung von DiPA. Die Bremer Untersuchung hat sogar einen gelegentlichen Unterstützungsbedarf bei der Hälfte der Onliner über 60 Jahre nachgewiesen.

In dem Verzeichnis soll neben den Anwendungen selbst auch die jeweilige Unterstützungsleistung angegeben werden. Die vielfach erforderliche Unterstützung, die auch unabhängig von einer konkreten Anwendung aufgrund der unterschiedlichen Einschränkungen der Pflegebedürftigen notwendig ist, habe ich in dem Entwurf der Verordnung nicht gefunden. Ohne ihn wird es jedoch keine nennenswerte Nutzung bei älteren Pflegebedürftigen geben und das Ziel der gesetzlichen Regelung nicht erreicht werden können. Aber vielleicht wird dieser Bedarf noch erkannt und die Regelung erweitert. Bis es zu Nutzung kommt, dürfte nämlich noch einige Zeit vergehen.

Große Unsicherheit beim Nachweis des pflegerischen Nutzens: Die Relativitätstheorie gilt auch hier

Die Kassen verlangen zu Recht, dass sie nur die Kosten für Anwendungen übernehmen sollen, deren pflegerischer Nutzen nachgewiesen ist. Die Verordnung regelt die inhaltlichen und methodischen Anforderungen an Prüfungen und Nachweise, zugrundzulegende Studien und Gewährleistungen sehr detailliert. Manche Stellungnahmen merken an, es würden große wissenschaftliche Studien verlangt. Eine Meta-Studie des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) hat über 100 Studien zur Wirksamkeit von Assistenzsystemen und digitalen Pflegeanwendungen analysiert, spricht von explorativem Charakter und kommt zu dem Ergebnis:

„Gesicherte Aussagen zum Nutzen von Assistenztechnologien sind damit bislang nicht möglich, da die zunehmend eingeforderten Wirksamkeitsbelege ….weitestgehend fehlen."

Es ist zu befürchten, dass valide und reliable Wirksamkeitsbelege in vielen Fällen aus methodischen Gründen auch in Zukunft nicht vorgelegt werden können. Der Nachweis ist bei Medizinprodukten oft schwierig, obwohl deren Wirksamkeit auf naturwissenschaftlichen chemischen, physiologischen oder pharmazeutischen Prozessen basiert, die im Labor getestet und in kontrollierten Studien mit relativ homogenen Test- und Kontrollgruppen validiert werden können. Die meisten Pflegeanwendungen beruhen hingegen auf sozialer Interaktion und Mensch-Maschine-Kommunikation, auf Prozessen in denen meistens zwei Menschen mit einem technischen System und untereinander kommunizieren, also zwischen der Anwendung und der Wirkung stehen und diese in nicht kontrollierbarer Weise relativieren. Zu den unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen kommen hier noch die jeweiligen digitalen Kompetenzen und das pflegerisch-gesundheitliche Wissen als Einflussfaktoren hinzu.

Man darf gespannt sein, wie oft die im Verordnungsentwurf vorgesehen Schiedsstelle angerufen wird, wenn der Zulassungsbehörde der Nachweis nicht ausreicht und der Antragsteller erklärt, es ginge nicht besser. Auf jeden Fall sollte Expertise aus der HCI-Forschung (Human-Computer-Interface) einbezogen werden, die weiss, dass Nutzungsverhalten nicht standardisierbar ist.

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